Als Tochter einer Jüdin und eines Kommunisten bin ich mit unterschiedlichen kulturellen, politischen und religiösen Einflüssen in der DDR aufgewachsen. Meine Mutter hielt vehement an ihrem Jüdischsein fest. Sie hatte die Nazizeit im Untergrund überlebt, doch ihr erster Mann und ihre beiden Kinder waren in Auschwitz vergast worden. Sie hätte es als Verrat empfunden, sich vom Judentum zu trennen. Mein Vater hatte gemeinsam mit seiner Mutter geholfen, Jüdinnen und Juden zu verstecken, darunter war meine Mutter. Nach dem Krieg heirateten die beiden und bauten ihre neue Familie auf. So wurde ich für meine beiden Schwestern geboren und trage auch ihre Namen: Eva Ruth Brigitte. Mein Vater sah dies als Vermächtnis an. Seine „Sprüche“ beeindruckten und beeinflussten mich schon als kleines Mädchen. Manche davon habe ich nie vergessen: „Du hast das Schwert in die Wiege gelegt bekommen. Du bist Jüdin, du musst dafür kämpfen“ oder „Hitler ist tot. Du lebst!“.
Ohne dass ich mich bewusst dafür entschied, bin ich dem Lebenskonzept meines Vaters gefolgt. Meinen Beruf als Ökonompädagogin habe ich gewählt, weil ich mit Jugendlichen arbeiten wollte. Unter anderem ging es mir darum, nicht wie üblich „rituelle Gedenkpolitik“ zu betreiben mit einseitiger Heroisierung des Widerstandskampfes. Ich wollte glaubwürdig sein, Jugendliche sollten bei mir die Schrecken der Naziherrschaft nachvollziehen können und sie sollten Sensibilität entwickeln. Sie sollten bei mir aus der Vergangenheit lernen, Verantwortung zu übernehmen, um (ihre) Zukunft zu gestalten. Bei einigen ist es mir gelungen.
Die „Wende“ brachte auch für mich eine berufliche Neuorientierung. Ab Juni 1991 erhielt ich schließlich eine feste Anstellung bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Zu guter Letzt „landete“ ich in deren Sozialabteilung, wo ich den alten Gemeindemitgliedern, den Überlebenden der Shoah, „treu zur Seite“ stand. Manche von ihnen kannten mich schon als kleines Mädchen. Das erzeugte teilweise eine vertrauensvolle Bindung, die ich einerseits für meine Arbeit benötigte, aber andererseits auch aufpassen musste, nicht vollends vereinnahmt zu werden. Manche waren auch die Eltern meiner Freunde. Durch den Umgang mit den ehemals verfolgten Eltern und ihren Kindern (Zweite Generation wie ich) bemerkte ich, dass wir die gleichen Probleme hatten.
In der Ausbildung zur Sozialarbeiterin lernte ich, welche Ursachen dies hatte und welche Probleme durch diese Konstellation untereinander und miteinander auftraten. In meiner Eigenschaft als Sozialarbeiterin verstand ich mich als die Person, die – wie bei einem Kartenspiel – alle hilfebringenden Karten in der Hand halten kann und für jede Person jeweils die richtige, individuelle Hilfekarte herausziehen sollte. Dieses Bild machte mir meine Verantwortung bewusst, brachte mir den nötigen professionellen Abstand und versetzte mich in die Lage, zielgerichteter helfen zu können – sowohl den Eltern als auch ihren Kindern.
Mein Leben lang suchte ich den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Neben meiner Arbeit in der Berufsausbildung, von der Lehrmeisterin bis zur Ausbildungsleiterin, habe ich mit viel Freude und Spaß einige Jahre lang die etwa 25 Kinder umfassende Kindergruppe der kleinen Ostberliner Jüdischen Gemeinde geleitet.
Später, Anfang der neunziger Jahre, war ich von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in den Kinder- und Jugendhilfeausschuss der Bezirke Prenzlauer Berg und Mitte delegiert worden. Etwa zur selben Zeit war ich am Aufbau der „Berliner Märchentage“ beteiligt, ging in Schulen und Bibliotheken und las und erzählte jüdische Märchen und Geschichten (Midraschim). Aber die Zeiten änderten sich und in den Schulen wurde von den Lehrern mehr interreligiöse Arbeit und endlich auch Arbeit zur Geschichte der Nazizeit gefordert. So kamen Schulklassen in die Jüdische Gemeinde und wollten etwas über jüdisches Leben erfahren.
Mit jüdischen Zeitzeuginnen und -zeugen (meine Klienten) ging ich in Schulen. Während sie (ihre Biographien kannte ich inzwischen recht ausführlich) über ihre Erlebnisse in der Nazizeit berichteten, erklärte ich die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge jener Zeit. Außerdem organisiere ich Führungen über jüdisches Leben in Berlin zu verschiedenen Epochen, Orten und Geschehnissen. Alles hat eine Verbindung mit der Geschichte meiner Familie, mit meinem Leben und mit mir.
Nun, da die Überlebenden der Shoah und der Naziverfolgung immer weniger werden, sind wir, die Zweite Generation, gefordert, die Erinnerungsarbeit fortzusetzen. Anhand der eigenen Familiengeschichte und des selbst mit den Eltern Erlebten können wir nachfolgenden Generationen sowohl Wissen als auch Emotionen vermitteln, um sie zu befähigen, die jegliche menschliche Vorstellung übersteigenden Verbrechen der Nazis nicht erneut zuzulassen. Aufgewachsen in der Welt der Überlebenden der Naziverfolgung, verstehe ich dies als mein persönliches Vermächtnis – gerade weil Hass, Gewalt, Demagogie und Herrenmenschentum in unserer Zeit wie Bojen an die Wasseroberfläche schießen.