Die Projektidee
Anfang März 2018 starb hochbetagt mein Vater Rudolf Wörsching, ein stets solidarisch handelnder, kritisch denkender Sozialist und Antifaschist. Im Herbst 1944 war er von der Nazi-Wehrmacht desertiert und hatte sich bis zum Kriegsende im Frühjahr 1945 einer Partisanengruppe des italienischen Widerstands angeschlossen. Die Erzählungen meines Vaters von seiner Zeit bei den Partisanen legten in früher Kindheit den Grund einer antifaschistischen Haltung bei mir.
Dass mein Vater den Nazismus zutiefst ablehnte, hatte viel mit seinem eigenen Vater zu tun. Dieser hatte auch Rudolf Wörsching geheißen und war als kommunistischer Widerständler fast die ganze Nazizeit über in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt gewesen, darunter in den KZs Dachau und Mauthausen. Zwei Jahre nach seiner Befreiung 1945 war er gestorben, gezeichnet von den erlittenen Entbehrungen.
Bereits bei meinem Vater handelte es sich also um ein Kind des Widerstandes, den Nachkommen eines Verfolgten. Ich hatte schon lange den Wunsch gehegt, etwas von dem antifaschistischen Impuls des Vaters und Großvaters weiterzugeben. In der Trauer um meinen verstorbenen Vater bildeten sich aus diesem Wunsch konkrete Fragen: Könnten die Geschichten aus meiner Familie andere Menschen in einer widerständigen Haltung gegen unmenschliche Zustände und Ideologien bestärken, ja vielleicht zu eigenem Engagement anregen? Wie müsste ich dann diese Geschichten erzählen?
Über diese Fragen wollte ich mich mit anderen Nachkommen des Widerstands, des Exils und von NS-Verfolgten austauschen. Dass ich dies 2018 im Rahmen des Nachkommenprojektes der Berliner VVN-BdA verwirklichen konnte, ist nur der Zusammenarbeit mit Marco Pompe, Hans Coppi und Jutta Harnisch zu verdanken. Gemeinsam konzipierten wir das Projekt, beantragten erfolgreich die finanzielle Förderung, kümmerten uns um die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltungen.
Der Austausch
Einen Kernbestandteil des Projektes stellten drei sehr gut besuchte Werkstattgespräche im Juni, September und Oktober 2018 dar. Der erste Workshop im Juni 2018 trug den Titel: „Unsere Vielfalt, unsere Gemeinsamkeiten – (Berliner) Nachkommen von Verfolgten des Nazismus und Widerstandskämpfer/-innen im Gespräch“.
Erschienen waren Nachkommen kommunistischer Widerstandskämpfer/-innen, verfolgter jüdischer Menschen und von Exilant/-innen. Als die Teilnehmenden gebeten wurden, sich je nach ihrer Zugehörigkeit zur ersten, zweiten, dritten und vierten Generation der Nachkommen in unterschiedlichen Ecken des Raums zusammenzufinden, regte sich Widerspruch. Viele der Anwesenden gehörten in ihren Familien zu mehreren Generationen gleichzeitig. Doch vor allem aus politischen Gründen wurde die Aufteilung abgelehnt: „Wir sind alle Nachkommen! Wir bleiben zusammen!“ Das stand unüberhörbar im Raum.
In zwei kleineren Gruppen wurden anschließend die folgenden Fragen gestellt: „Wie hat Dich Deine Familiengeschichte politisch und menschlich geprägt? Wie beeinflusst diese Prägung Dein heutiges Handeln?“
Die stichwortartig aufgeschriebenen Antworten lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, und doch kehren in ihnen einige Grundmotive immer wieder: Die Geschichte der (Urgroß- und Groß-) Eltern wurde ein wertvoller, antreibender Teil der eigenen Identität, doch damit einher gingen vielfach tiefe Traumatisierungen und auch ein gebrochenes, mitunter konfliktreiches Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft in DDR und BRD. Eines eint anscheinend alle teilnehmenden Nachkommen: Das grundlegende Selbstverständnis als politische Menschen mit gesellschaftlicher Verantwortung und dem Auftrag, sich gegen alle möglichen Formen von Menschenverachtung und Ausgrenzung einzusetzen.
Das zweite Werkstattgespräch im September 2018 stand unter der Überschrift: „Umgang von Nachkommen Verfolgter des Naziregimes mit psychisch bedingten Belastungen“. Es war mit weit über 50 Teilnehmenden der am besten besuchte Workshop und gleichzeitig der mit der größten Vielfalt von Nachkommen aus verschiedenen Widerstands- und Verfolgtengruppen.
Der Psychoanalytiker und Autor Ludger Hermanns sprach klar und eindringlich über Stolz, Auftrag und Trauer der Nachkommen, über die Weitergabe der Traumata der Vorfahren und über die feststellbaren Wiederholungsmuster von Verhaltensweisen und Verletzungen. Sein wichtigster Ratschlag an die Nachkommen war, nie allein zu bleiben mit ihren Problemen, sondern immer den Austausch mit anderen Betroffenen zu suchen.
Genau solch ein Austausch fand anschließend in drei parallelen Gruppen statt. Besprochen wurde, inwiefern die familiäre Verfolgungsgeschichte einerseits Antrieb für Aktivität sein kann – im Sinne einer Aufforderung: „Nie wieder Verfolgung zulassen!“ – und wie diese Geschichte andererseits zur Vorsicht mahnt, um nie selbst Verfolgung erleben zu müssen.
In einer anderen Gesprächsrunde ging es um das ambivalente Verhältnis der Nachkommen zum Deutschsein und zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die meisten Nachkommen sehen sich eher als Bürger/-innen der Erde oder Europas und weniger als Deutsche. Dennoch fühlen sich alle verpflichtet, eine friedliche und demokratische Gesellschaft in Deutschland mitzugestalten.
Eine dritte Runde mit dem Titel „Wiederkehr der Vergangenheit?“ widmete sich der Reaktion der Nachkommen auf das Erstarken nationalistischer und autoritärer Kräfte in Deutschland, Europa und der Welt. Ängste vor der Zukunft empfanden alle Teilnehmenden angesichts der aktuellen Entwicklung. Einige äußerten die Befürchtung, in nicht ferner Zukunft selber ins Exil zu müssen – so, wie es vielen ihrer Vorfahren schon einmal erging.
Der zweite Workshop behandelte also verfolgungsbedingte transgenerationale Belastungen und Probleme, die bei Nachkommen weiter wirken können. Im Kreis der Nachkommen konnten diese Fragen offen und vertraulich erörtert werden. Vorgeschlagen wurde, den Austausch weiterzuführen, denn er ist für viele Nachkommen notwendig, um Handlungsfähigkeit zu erreichen. Um die Handlungsebene ging es dann auch im dritten und letzten Workshop im Oktober 2018 zu „Verfolgung, Widerstand und Exil – Nachkommen in der Bildungsarbeit“.
Nach einem Problemaufriss durch die Sozialwissenschaftlerin Dr. Iris Wachsmuth lernten die Teilnehmenden das Geschichtsprojekt einer Förderschule in Berlin-Neukölln kennen, die nach dem sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Adolf Reichwein benannt ist. Lehrende und Lernende der Schule beziehen die Tochter des Namenspatrons, Sabine Reichwein, fortwährend in ihre Arbeit mit ein.
Danach gab es wieder drei parallele Gesprächsrunden, in denen sich Nachkommen über ihre Erfahrungen in der Bildungs- und Gedenkstättenarbeit austauschten oder Hinweise zur literarischen Verarbeitung ihrer Geschichten und zu ihrer Vermittlung an jüngere Menschen erhielten.
Das Projekt endet … und geht doch weiter!
Den Austausch unter Nachkommen habe ich als ungemein intensiv und anregend sowie als sehr vertrauensvoll empfunden. Viele beteiligten sich nicht nur an einem der Werkstattgespräche, sondern kamen wieder. Kontakte wurden neu geknüpft oder gepflegt; ein Netzwerk ist am Entstehen.
Zahlreiche Fragen, Bedürfnisse und Anliegen wurden geäußert und notiert. Entstanden ist die Idee, 2019 eine lockere Reihe von kleineren Gesprächsrunden zu speziellen Fragen zu organisieren. Auch hier soll wieder die gegenseitige Ermutigung und Bestärkung der Nachkommen im Vordergrund stehen, insbesondere die Vermittlung von Kontakten und Kenntnissen, um mit der eigenen Geschichte in Bildungsarbeit und Öffentlichkeit auftreten zu können.
Ich selbst habe noch keine Antwort auf die Frage gefunden, ob und wie ich die Geschichte meines Großvaters und meines Vaters – und meine eigene – vermitteln könnte. Auch deswegen bleibt der Austausch mit den Nachkommen 2019 für mich eine sowohl politisch als auch ganz persönlich wichtige Sache.