Das erste, woran ich mich aus meiner Kindheit an meinen Großvater Stanisław Majchrzak erinnere, ist, dass wir Auschwitz spielten. Aus alten Streichholzschachteln bauten wir Krematorien. Als der Teppich Feuer fing, schimpften unsere Eltern. Keiner erklärte uns damals vier- oder sechsjährigen das Wort Auschwitz. Das Schwiegen über die Stationen des aufgeschobenen Sterbens und Überlebens meines Großvaters in Zuchthäusern und Lagern wie Neusustrum V, Auschwitz-Birkenau, Mittelbau-Dora oder Bergen-Belsen war dennoch unüberhörbar. Ich war erst sechs Jahre alt, als mein Großvater an den Spätfolgen der Verfolgung 1983 starb. Wir konnten als Erwachsene nie darüber sprechen.
Fünfzehn Jahre später versteckte ich mich hinter Brettern auf einer Baustelle in Frankfurt (Oder). Zwei Neonazis vom „Oder-Sturm“ lauerten mir auf dem Nachhauseweg zum Studentenwohnheim auf. Sie hielten mir eine Pistole an die Schläfe. Ich erinnere mich an ihr „Sieg Heil“. Einige Monate vorher wartet sie auf mich am Gedenkstein für die zerstörte Synagoge. Einer schlug von hinten mit einem Baseballschläger zu. Ich erinnere mich an das Gefühl des zwischen den Fingern rinnenden Blutes und die Angst, den Kopf zu berühren, um dort vielleicht das Hirn zu berühren.
Als meine Tochter Emilia zur Welt kam, beschloss ich nach Buchenwald zu fahren. Ich wollte meinen Großvater verstehen oder besser gesagt kennenlernen. Seine Einsamkeit und Isolation. Ich irrte in Weimar umher. Ich wollte ihm ein Zeichen geben, dass ich für ihn da bin, ihm zuhören möchte. Er schwieg.
Anders als für erinnerungspolitische Expert*innen ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für viele Nachkommen eine sehr persönliche und traumatische. Bei unsere Suche wurden wir weitgehend allein gelassen, teilweise bewusst isoliert. Obwohl viele Expert*innen die Gefahren beschwören, die eintreten, wenn die letzten Überlebenden sterben, habe ich oft das Gefühl, dass manche es kaum erwarten können, dass diese tatsächlich verstummen.
Die Nachkommen werden in der Bildungsarbeit als Partner*innen kaum berücksichtigt. Die Erfahrungen der Nachkommen werden oft nur um den Preis ihrer Pathologisierung anerkannt. Wir sind Objekte einer Politik, nicht jedoch deren eigenständige Subjekte. Nichts anderes ist unseren Großeltern widerfahren. Zunächst hörte ihnen keiner zu. Also gab es sie gar nicht. Irgendwann war es zu spät für Anerkennung, Entschädigung, Rente, Rehabilitation und Respekt.
Die individuelle Pathologisierung erlaubt damals und heute, von den konkreten Täter*innen zu abstrahieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervorbrachten, zu vernebeln. Dies verhindert auch eine Auseinandersetzung mit ähnlichen Prozessen in der Gegenwart. Während die Vergangenheit aus dem gesellschaftlichen Kontext losgelöst wird, verwandelt sich auch die Gegenwart zu etwas ewig transzendentem, von Vergangenheit losgelöstem. Dabei macht gerade das Sichtbarmachen der Realität gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und die Verstrickung in diese Gewalt – auch als Opfer in einem KZ oder während der Besatzung – eine kritische Perspektive auf die Gegenwart und die heute herrschenden Machtverhältnisse möglich. Sie offenbart unsere Handlungsmöglichkeiten und Verantwortung für den anderen Menschen.
Anders als viele erinnerungspolitische Expert*innen, wollen wir Nachkommen weder Repräsentieren, noch als neue Opfern definiert werden.
Das Fortwirken der Vernichtung und der traumatischen Erfahrungen beschränkt sich nicht nur auf die Überlebenden des Nationalsozialismus und der Shoah. Sie sind erfahrbar für uns als nachkommende Generationen. Die Auseinandersetzung damit wird zu einer persönlichen Frage der Ethik, wodurch wir Nachkommen ein Gegenstück erarbeiten können zu einer Form der Erinnerung, die sich lediglich auf historische Zeitangaben und Zahlen der Ermordeten bezieht. Allein auf Grundlage historischer Zeitangaben kann eine kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Realität der Gegenwart nämlich nicht stattfinden.
Der hilflose Versuch, für und im Namen der Ermordeten zu sprechen, verkennt, dass Geschichtswissenschaft an sich gar keine Pflicht zur Erinnerung kennt. Gesellschaftliche und individuelle Ethik dagegen schon. Wir, die Nachkommen, könnten hier durch Erfahrungen bei der Aufarbeitung traumatischer Ereignisse unserer eigenen Geschichte einen Beitrag leisten, um in Zukunft die Fortsetzung der Erinnerungsarbeit ohne unsere Großeltern und Eltern fortzusetzen.
Die damaligen Gewaltverhältnisse wirken vielfach nach wie vor real fort. Sie wirken aber auch unbewusst durch transgenerationale Trauma-Weitergabe fort und machen die Vergangenheit zur immer wiederkehrenden Beschäftigung in der Gegenwart. Ob wir, die Nachkommen, das wollen oder nicht, irgendwann bricht es heraus, auch wenn es eine Generation überspringen kann. Und beides ist verschränkt mit herrschenden gesellschaftlichen Diskursen, Machtverhältnissen, aber auch der Rolle der Expert*innen, die sie bewusst oder unbewusst zur Legitimierung und Immunisierung ihrer Deutungen in der Erinnerungspolitik einnehmen.
Es liegt an uns, uns unserer eigenen Verantwortung in der Gegenwart und unserer Bedeutung bewusst zu werden. Wir müssen eine eigenständige Stimme erheben, um uns diesen Herausforderungen zu stellen. Jede Generation der Nachkommen muss ihren eigenen Weg finden, damit umzugehen. Keiner kann sie jedoch dazu zwingen.
Wir dürfen jedoch weder unser heutiges Leben aufgeben aufgrund der Last von Auschwitz, noch nur um den Preis des Vergessens weiterleben.
Kamil Majchrzak ist Mitglied des Vorstandes des Internationalen Komitees Buchenwald Dora (IKBD) und der Berliner VVN-BdA. Für sein Engagement für die Ghetto-Renten wurde er 2015 von Überlebenden mit der Ehren-Medaille „Aufstand im Warschauer Ghetto“ ausgezeichnet.