Antonio Leonhardt (*1994) – Wer nicht feiert, hat verloren – Der 8. Mai als Feiertag

Ich schreibe meinen Beitrag als Nachkomme der Familie Fichtmann, einer Familie Berliner Juden und Kommunisten. Einer großen Familie – neben meinen Ururgroßeltern Clara und Leo Fichtmann bestand die Familie aus sechs Kindern sowie den vierzehn Enkeln. Vergilbte Bilder zeugen von einem vollen Haus bei gemeinsamen Feiern im Kreis von Familie und Freunden. Daneben war da aber immer auch die Politik. Wie die Eltern waren auch die Kinder „politisch“. Auf die eine oder andere Art waren sie Kommunisten, waren an der Arbeit in Partei, Jugendverband oder Arbeitersportverein beteiligt, gingen auf Demos, verteilten Flugblätter und gaben sogar Zeitungen heraus. Politisches Engagement, das die Generationen bis zum heutigen Tag überdauerte. Als assimilierte Juden und aktive Kommunisten den Nazis doppelt verhasst, trafen von Beginn an Terror und Verfolgung die Familie hart. Meine Ururgroßeltern wurden von den Nazis umgebracht: Clara Fichtmann wurde in Auschwitz vergast. Leo Fichtmann wurde in Sachsenhausen erschossen. Von ihren Kindern wurden weitere zwei in Konzentrationslagern ermordet, ein Sohn nahm sich das Leben, um diesem Schicksal zu entgehen. Meine Uroma und Oma überlebten nur, weil sie durch einen sogenannten „arischen“ Ehemann und Vater, meinen Uropa, geschützt waren. Keiner kann allerdings heute sagen, wie lange der Rassenwahn der Nazis noch vor „deutsch versippten“ Jüdinnen und Juden und ihren sogenannten „Mischlingskindern“ halt gemacht hätte.

Jeder 8. Mai ist daher für mich auch ein ganz persönlicher Tag der Befreiung, der meine Familie, die Kinder und Enkelkinder von Clara und Leo Fichtmann, vor weiterer Verfolgung und Leid bewahrte und aus einem 12 Jahre dauernden Martyrium erlöste. Ohne den 8. Mai 1945 gäbe es keinen Autor, der diesen Beitrag schreiben könnte.

Meine Überlegungen verstehe ich daher als Intervention in einer ansteigenden aktuellen landespolitischen Diskussion. Seit einiger Zeit befindet sich das Land Berlin auf der öffentlichen Suche nach einem festen zehnten Feiertag. Vor dem Hintergrund meiner Familienbiographie setze ich ich mich in der Debatte für den 8. Mai ein, den Tag der Befreiung. Als vielfacher Wendepunkt deutscher Geschichte kreuzen sich hier Entwicklungslinien und kristallisieren sich geschichts- und gesellschaftspolitische Debatten. Schon das Wort „Befreiung“ ist dabei keine Selbstverständlichkeit und immer wieder auch politischen Anfechtungen ausgesetzt. Schon kurz nach 1945 war die Erinnerung der Deutschen geprägt durch die unterschiedliche Einstellung zum besiegten Hitlerfaschismus sowie der neuen Nachkriegsordnung und brachen sich Befreiungsfreude, Existenzangst, Demokratiefeindschaft, innerer Rückzug, Anpassung und Pragmatismus oder Trauer Bahn.

Vorläufiger Endpunkt einer in den beiden deutschen Staaten unterschiedlich verlaufenden Debatte stellt die Rede Richard von Weizäckers 1985 dar. In Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks, den der Autor auch persönlich in seiner Auseinandersetzung mit der AfD als Lichtenberger Bezirkspolitiker zu spüren bekommt, drohen wir indes dahinter zurückzufallen.

Bei der zunehmenden Betonung der deutschen Opfer droht in Vergessenheit zu geraten, dass die anderen Völker zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges wurden, „bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden“ (H. A. Winkler).

Weiterhin kommt es bei der Wahrnehmung des faschistischen Krieges zu einer Akzentverschiebung. Es findet eine Umdeutung in einen reinen Vernichtungskrieg gegen die europäischen Juden statt, wobei die Zusammenhänge zum deutschen Militarismus und territorialen Expansionsdrang gerade auch vor dem Hintergrund einer angestrebten Neuorientierung des außenpolitischen Rollenverständnisses Deutschlands verwischt werden.

Zudem forcieren die aktuellen militärstrategischen Spannungen der ehemaligen Alliierten eine latente Überbewertung der Westfront gegenüber der Ostfront. Mit Blick auf die Opferzahlen auf sowjetischer Seite stellt dies eine eklatante, tagespolitisch motivierte Relativierung der Leistungen des „Hauptbefreiers“ dar.

Gegen diese Tendenzen stellt die Erhebung des 8. Mais zum Feiertag eine wertvolle geschichtspolitische Intervention dar. Zu fördern ist ein lebendiges Erinnern, das sind Festumzüge, Konzerte, Einladungen an die Völker der Befreier und die Entwicklung einer Vision von einem „europäischen 8. Mai“.

Dieser könnte dem „Abgleich der nationalen Gedächtnisse“ (Dan Diner) dienen, die Opfer und Täterrollen reflektieren und aus der gemeinsamen europäischen Erfahrung eines furchtbaren Krieges Einendes für Gegenwart und Zukunft schöpfen. Hierbei kann an die Berliner VVN-BdA angeknüpft werden, die den Tag des Sieges am 9. Mai seit 20 Jahren im Umfeld des sowjetischen Ehrenmals Treptow gemeinsam mit tausenden Besuchern unterschiedlicher Herkunft und Alters begeht.