2006 wurde mir während eines Mittagessens mein Sitznachbar als Hans Coppi vorgestellt. Mir entfuhr ein DER Hans Coppi, das mir sofort unangenehm war. Hintergrund war ein persönliches Erlebnis, das ich etwa 1989 hatte, als meine damalige Schule, von Hans-Coppi in Hans-und-Hilde-Coppi-Oberschule umbenannt worden war. Anlässlich der Umbenennungsfeierlichkeiten sprach Hans Coppi über seine Eltern, was mich als Kind tief bewegte und woran ich mich auch 2006 noch gut erinnern konnte.
In Vorbereitung dieser Umbenennung hatten wir uns im „Heimatkundeunterricht“ − wie es damals hieß − mit den Biografien der Coppis beschäftigt und ich erzählte meinen Eltern davon. Es muss etwa zu dieser Zeit gewesen sein, als mir meine Mutter sagte, dass auch mein Großvater Karl Raddatz Widerstandskämpfer gewesen ist. Ich habe ihn nie kennengelernt, er ist zehn Jahre vor meiner Geburt gestorben. Ich kann es nicht anders sagen, ich war stolz, mehr als stolz, dass auch mein Großvater zu den Menschen zählte, die Widerstand geleistet hatten.
Karl Raddatz, Jahrgang 1904, war gelernter Buchdrucker und seit dem Ende der 1920er Jahren in der KPD und der revolutionären Gewerkschaftsopposition organisiert. Nach 1933 beteiligte er sich am illegalen kommunistischen Widerstand in seiner Heimatstadt Magdeburg und wurde im Juli 1934 wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ vom Kammergericht Berlin zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er im Zuchthaus Luckau verbüßte. 1937 entlassen, nahm er ab 1938 die illegale Arbeit wieder auf. Am 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, wurde Karl Raddatz in „Schutzhaft“ genommen. Nach einigen Wochen in Gestapo-Haft wurde er in das KZ Sachsenhausen überstellt. Hier war er inhaftiert, bis er 1945 auf dem Todesmarsch floh.
In der Oberstufe besuchte ich mit der Schule die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen. Ich wusste, dass Karl Raddatz hier im kommunistischen Widerstand organisiert gewesen ist. Damals – Ende der 1990er Jahre – gab es noch die in der DDR entstandene Ausstellung über den Lagerwiderstand – meinen Großvater suchte ich dort vergebens.
Was mir meine Mutter 1989 nicht erzählt hatte, war, dass Karl Raddatz nicht zu denjenigen gehörte, die damals geehrt wurden. Am 22. Juni 1960, genau 19 Jahre nach seiner „Inschutzhaftnahme“ durch die Gestapo wurde er in der DDR verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. 1962 wurde er wegen angeblicher Spionage für das „Ostbüro der SPD“ und den Bundesnachrichtendienst zu einer siebeneinhalbjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Eigentlicher Hintergrund seiner Inhaftierung war das Bestreben einiger Parteifunktionäre, nach dem XX. Parteitag der KPdSU auch die DDR zu entstalinisieren. 1964 wurde Karl Raddatz im Zuge einer Amnestie aus der Haft entlassen.
Als Studentin habe ich begonnen, mein persönliches Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus, das unter anderem durch die Beschäftigung mit der Geschichte meines Großvaters entstanden war, in wissenschaftliche Bahnen zu lenken. Mittlerweile habe ich die Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen, des Widerstandes sowie dessen Verfolgung und besonders die Vermittlung dieser Geschichte an junge Menschen zu meinem Beruf gemacht.
Heute denke ich häufig darüber nach, was mein Großvater zu den aktuellen politischen Entwicklungen sagen würde; dazu, dass die AfD im Bundestag sitzt, dazu, dass in Brasilien gerade ein Faschist zum Präsidenten gewählt wurde, der ganz offen schon vor der Wahl politische Säuberungen angekündigt hat. Manchmal werde ich so wütend, wenn ich höre, dass „Nie wieder“ das höchste Credo in Deutschland sei. Ich frage mich, wann das genau beginnen soll: Fast 200 Menschen wurden in Deutschland seit 1990 von Nazis ermordet, unter ihnen die Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, der jahrelang unentdeckt blieb, während die Polizei versuchte, die Opfer in die Nähe des organisierten Verbrechens zu rücken und Angehörige drangsalierte. In Chemnitz wurden noch vor wenigen Wochen Journalist*innen und Menschen gejagt, die der Mob als „nichtdeutsch“ definierte. Und ich könnte noch so viel mehr aufzählen. Berlin ist nicht Weimar und doch gibt es so viele Parallelen, die mir Angst machen.
Ein wichtiger persönlicher Schritt war für mich der Eintritt in die VVN im vergangenen Jahr, deren erster Generalsekretär Karl Raddatz 1947 war. Zum einen fühle ich mich als Angehörige der sogenannten 3. Generation verpflichtet, die Erinnerung an die ehemaligen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer und alle Verfolgten aufrecht zu erhalten. Zum anderen möchte ich diejenigen unterstützen, die zwischen 1933 und 1945 verfolgt wurden und heute noch in der VVN aktiv sind. Für die VVN ist Antifaschismus ein Zukunftsentwurf. Sie steht somit am Schnittpunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch die Geschichte meiner Familie steht dafür.
Karl Raddatz war überzeugter Kommunist und Antifaschist. Dass er mein Großvater war, hat mich tief geprägt. Ich habe großen Respekt vor seinem Mut, Widerstand zu leisten und sich für seine Überzeugungen einzusetzen. Er hat sein eigenes Leben dafür riskiert. Auch ich bin überzeugte Antifaschistin und versuche täglich dafür einzustehen.
Karoline Georg, Dr. des., geboren 1980 in Berlin. Studium der Politikwissenschaft, Projektleiterin bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus von 2007 bis 2009, freiberufliche Tätigkeit im Bereich der historisch-politischen Bildung, 2012 bis 2018 Promotion zu den jüdischen Häftlingen im Berliner Gestapogefängnis und Konzentrationslager Columbia-Haus 1933 bis 1945 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der FU Berlin, seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gedenkstätte Stille Helden in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand.