Seit 1988 vergibt die SPD in Karlsruhe den Ludwig-Marum-Preis zum Gedenken an den badischen jüdischen Politiker, den badischen Justizminister und Karlsruher SPD-Reichstagsabgeordneten. Er wurde 1934 im KZ Kislau von den Nazis ermordet. Geboren wurde er 1882 in Frankenthal in der Pfalz in einem jüdischen Elternhaus, trat nach einem Jurastudium bereits 1904 der SPD bei. In Karlsruhe, wo er seit 1909 lebte, gründete eine Anwaltspraxis und begann gleichzeitig sein politisches Wirken. 1914 wurde er als Abgeordneter seiner Partei in den badischen Landtag gewählt. Während der Novemberrevolution gehörte er zu den Begründern der badischen Verfassung, er wurde dort Justizminister, war über viele Jahre Fraktionsführer seiner Partei im Landtag und wurde von 1928 an bis 1933 in den Reichstag gewählt. Sofort nach der Machtübertragung an die Nazis wurde er verhaftet und 1934 im KZ Kislau ermordet. Er war den badischen Nazis ein besonders verhasster Gegner, hatte er, „der Jude“, sie doch sowohl juristisch vor Gericht als auch politisch bloßgestellt.
Ludwig Marum war mein Großvater. Ich fahre seit 1990 beinahe jedes Jahr nach Karlsruhe, um bei der Preisverleihung den Preisträgerinnen und Preisträgern im Namen der Nachkommen den Dank für ihr Wirken im Sinne Ludwig Marums auszusprechen. Selbstverständlich gehe ich aus gegebenem Anlass auf aktuelles politisches Geschehen ein und stelle den Bezug zur Familienbiografie her. Neben meiner Beteiligung an diesen Auszeichnungen bin ich ebenso regelmäßig im Ludwig-Marum-Gymnasium in Berghausen (Pfinztal) in der Nähe von Karlsruhe, wo die Schule gemeinsam mit der Gemeinde 2000 eine Stiftung gegründet hat, um dort an Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Bewohnerinnen und Bewohnern des Ortes einen Preis verleihen zu können.
Ich setze damit eine Tradition fort, die Elisabeth Marum-Lunau, die älteste Tochter von Ludwig und Johanna Marum, 1988 begründete, als in ihrer Anwesenheit dem Gymnasium in Pfinztal/Bergfelde der Name Ludwig Marum verliehen wurde – übrigens auf Antrag von Schülerinnen und Schülern und gegen starken Widerstand der Schulbehörde und -leitung.
Seit 1995 hat es sich eingebürgert, dass ich in der Zeit, wo ich aus Anlass der beiden Preisverleihungen in Karlsruhe bin, von Lehrerinnen und Lehrern des Gymnasiums eingeladen werde, zu Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern ihre Klassen zu besuchen – gleich, ob es die 5. oder 7. Klassen oder Kurse der Oberstufe sind. Wenn ich auf all diese Jahre zurückblicke, wird mir deutlich, wie sehr sich der Inhalt dieser Gespräche verändert hat.
In den 1990er Jahren spielte in den Gesprächen die „Exotik“ einer Enkelin des Namensgebers eine Rolle: Ob ich meinen Großvater gekannt habe, wie er gewesen sei, wie es in Mexiko war, wo meine Eltern mit ihren beiden Kindern im Exil waren, ob ich den Krieg erlebt habe, wie ich gelebt habe, was meine Kinder machen. In den höheren Klassen gab es Gespräche über die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten und mein Leben in der DDR. In den letzten Jahren bemerke ich, dass sich die Gespräche immer mehr um die Probleme der Gegenwart bewegen, um die Flüchtlingspolitik, um den anschwellenden Rassismus und Rechtspopulismus, auch über den Einfluss der verschiedenen Religionen. Ich bemühe mich, mit dem Erzählen über meine Familiengeschichte den Bezug zum heute herzustellen, indem ich mich mit den Schülerinnen und Schülern über ihr Leben, ihre Familien unterhalte, woher sie, ihre Eltern, ihre Großeltern kommen, welche Familientraditionen es bei ihnen gibt. Und es wird deutlich: Ob man vor deutschem Faschismus, einem Krieg im Kosovo oder Syrien flieht, es ist immer ein Unheil, das jeden in diesem Gebiet betrifft. Hilfe, Solidarität sind in dieser Situation die größte Unterstützung. Wir sprechen auch darüber, wie Kriege entstehen, dass sie Menschenwerk sind, dass es um Rohstoffe, um Macht, um Beherrschung dieser Welt geht. Ich hoffe dazu beizutragen, dass die Schüler einen eigenen politischen Standpunkt, ein kritisches Bewusstsein entwickeln.
Stehe ich vor neuen Herausforderungen? Vor neuen Herausforderungen stand ich 1989/1990. Bei den damaligen gesellschaftlichen Veränderungen musste ich meinen Platz in einer Gesellschaft suchen, der ich sehr kritisch gegenüber stand und immer noch stehe. Inzwischen habe ich meinen Platz gefunden und eingenommen. Dass die Schüler sich für meine Familiengeschichte interessierten, war für mich Anlass, die Geschichte meiner Familien gründlich zu erkunden und nachzudenken, was ich im Ludwig-Marum-Gymnasium davon vermitteln kann. Die gesellschaftliche Situation rückt nach Rechts. Das empfinde ich als eine Verpflichtung, mit meiner Familiengeschichte und den daraus gewonnenen Erkenntnissen beizutragen, dass junge Menschen in die Lage sind zu wissen, dass eine demokratische Gesellschaft heute nicht ohne die Erfahrungen der Flucht vor den Nazis auskommt. Insofern sehe ich mich als Zeitzeugin von Zeitzeugen.