Amélie zu Eulenburg (*1984) – Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat auch keine Zukunft

Am 13. Januar 1945 erhielt meine Großmutter durch ihren Rechtsanwalt Joachim Grabow Nachricht von der Verhaftung meines Großvaters: »Auf Wunsch Ihres Mannes teile ich Ihnen mit, dass dieser sich zur Zeit in Plötzensee befindet.« Sie selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf.

Meine Großeltern Kurt Walter, *1893, und Emmi Kabisch, geb. von Pustau *1895, waren seit 1921 verheiratet. Seit Ende der 1930er Jahre lebten sie im »Französischen Hof« in der Friedrichsgracht 61, am Spreeufer. Mein Großvater war Kunstmaler und Grafiker. Er hatte von 1916−1921 an der Unterrichtsanstalt der Königlichen Kunstgewerbeschule Malerei und Grafik bei Emil Orlik studiert. Dort besuchte er dieselbe Klasse wie Hannah Höch und George Grosz. In den 1920er und 1930er Jahren zeichnete er politische Karikaturen für satirische Zeitschriften wie den »Ulk«, die Beilage des Berliner Tageblatts. Meine Großmutter war Hausfrau, beschäftigte sich jedoch leidenschaftlich mit Mathematik. Im Jahr 1940 kam meine Mutter Gita zur Welt. Meine Großeltern brachten sie Weihnachten 1943 zu Bekannten nach Sachsen, wo sie den Krieg überlebte. 1946 wurde sie von Verwandten nach Hamburg geholt.

Am 3. August 1944 wurde meine Großmutter wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt. Eine Frau, Gertrud Daude aus Götz/Groß Kreutz bei Werder Havel, hatte sie denunziert, weil sie sich im Sommer 1943 über das baldige Kriegsende geäußert hatte. Am 18. August 1944 festgenommen, erhielt sie in der Untersuchungshaft in Moabit ihre Anklageschrift. Am 21. September 1944 wurde sie ins Frauengefängnis Barnimstraße überstellt. Bei der Gerichtsverhandlung am 10. November wurde ihr schlechter gesundheitlicher Zustand angesprochen, sie wog nur noch 82 Pfund. Am 22. November 1944 erfolgte die Überführung ins Haftkrankenhaus Meusdorf und am 12. März 1945 in die Justizvollzugsanstalt Nordhausen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist sie verschollen.

Ende November 1944 wurde auch mein Großvater verhaftet, laut Akte wegen »Diebstahl und Kriegswirtschaftsvergehen«. Am 29. November 1944 erfolgte die Verlegung von der Untersuchungshaftanstalt Moabit ins Gefängnis Plötzensee. Von dort wurde er am 29.3.1945 nach Hause entlassen. Seine Wohnung war jedoch bei Bombenangriffen stark zerstört worden und er lebte in den nächsten Wochen vermutlich im Bunker der Reichsbank. Dort soll er mehrfach durch kritische Äußerungen aufgefallen sein. Ende April 1945 wurde er in der Sperlingsgasse erschossen aufgefunden. Laut eines Artikels in der Berliner Zeitung vom 1. Mai 1947 soll ihn ein SS-Mann von hinten erschossen haben.

Wir hatten als Kinder nur eine vage Ahnung davon, dass unseren Großeltern im Zweiten Weltkrieg etwas zugestoßen war, ohne jedoch genauere Einzelheiten zu kennen. Es wurde auch nicht darüber gesprochen. Während meines Geschichtsstudiums recherchierte ich in verschiedenen Archiven zu unterschiedlichen Themen und stieß dabei zufällig auf das Gerichtsurteil meiner Großmutter im Bestand des Bundesarchivs Berlin. Meine Neugierde war geweckt und es gelang mir immer mehr Informationen zusammenzutragen, so dass die Biografien meiner Großeltern an Vollständigkeit gewannen.

Ich arbeite inzwischen selbst als Historikerin und Kuratorin in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Nach dem Geschichtsstudium, einigen Stationen und Ausstellungsprojekten, wie einem wissenschaftlichen Volontariat in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Mitarbeit beim Deutsch-Russischen Museum Karlshorst oder bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, bin ich zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. Die Gedenkstätte Lindenstraße ist ein Ort mit mehrfacher Diktaturvergangenheit, das Gefängnis diente nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch in der sowjetischen Besatzungszeit und der DDR als Haftort.

Für meine Arbeit ist mir wichtig, dass Opfer von staatlichem Terror, unabhängig von welchem politischen System sie verfolgt wurden, nicht gegeneinander ausgespielt werden. Stattdessen sollte jede einzelne Biografie mit Einfühlungsvermögen betrachtet und in ihren jeweiligen Kontext und ins Verhältnis gesetzt werden, nicht aber in Konkurrenz zu anderen Biografien. Erste Versuche dazu begannen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sie dauern bis heute fort.

Hans Coppi lud mich im September 2018 zum Workshop und dem Vernetzungstreffen mit Nachkommen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ein. Es gab viele anregende Gespräche und Diskussionen, über die Vergangenheit und die Gegenwart, und es herrschte Einvernehmen darüber, wie wichtig und unverzichtbar demokratische Werte heute sind. Zur Demokratie gehört die gerechte und soziale Gestaltung der Gegenwart und Zukunft ebenso wie Gedenken und Erinnerung an vergangene Verbrechen, staatlichen Terror und Gewalt sowie deren Aufarbeitung. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat auch keine Zukunft.