Hans Coppi (*1942) – Die „Rote Kapelle“ auf neue Weise erzählen

Meinen Eltern verdanke ich mein Dasein, das Ende November 1942 in der Entbindungsstation im Berliner Frauengefängnis an der Barnimstraße begann. Zwei Tage vor dem Hinrichtungstermin wurde ich am Eingang des Gefängnisses in einem Kissen meiner Großmutter mütterlicherseits übergeben. Nach dem Krieg bin ich bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen. Wir wohnten in einer noch im Krieg zerstörten und danach wieder aufgebauten Laube in der Kleingartenkolonie „Am Waldessaum“ in Borsigwalde. Dort hatten meine Eltern vom Mai 1941 bis zu ihrer Festnahme im September 1942 die wohl glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht. Seit 1947 erinnerte ein kleines Schild an der Laube an die früheren Bewohner. Zum Gedenktag an die Opfer des Faschismus versammelten sich mir unbekannte Besucher auf unserem Grundstück und legten Blumen nieder.

Meine Großeltern entschlossen sich, im August 1950 in den „demokratischen Sektor“ Berlins nach Karlshorst zu ziehen. In den folgenden Jahren erhielten – häufig nach Zustimmung meiner Großeltern – Pionier- und FDJ-Organisationen, Kinderheime, Kindergärten, Brigaden in Betrieben, Straßen und Schulen den Namen von Hilde und/oder von Hans Coppi. Es war für mich nicht einfach mit (toten und mich verpflichtenden) Helden aufzuwachsen. Für mich blieben sie meine Eltern, die mir fehlten und die ich sehr vermisste. Mich störte, wenn bei Namensgebungen der letzte Brief meiner Mutter verlesen wurde. Wenn ich nach dem Tod meiner Großeltern von Schulen eingeladen wurde, bat ich Freunde meiner Eltern mich zu begleiten. Sie erzählten, wie sie sich auf der Schulfarm Scharfenberg kennengelernt und nach 1933 an zahlreichen Widerstandsaktivitäten beteiligt hatten. Später hatte ich Kontakt zu den Namensträgern und war Gesprächspartner an Schulen. 1973 begegnete ich meinen Eltern in dem DEFA-Film „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ auf einer großen Kinoleinwand.

Immer mehr interessierte mich, was sich hinter der „Roten Kapelle“ verbarg. In den mir zugänglichen Veröffentlichungen fand ich kaum Antworten auf meine Fragen. 1988 lud mich der Historiker Heinrich Scheel ein, in der Arbeitsgruppe „Schulze-Boysen-Harnack-Widerstandsorganisation“ an der Akademie der Wissenschaften mitzuarbeiten.

Zunächst interessierte mich der Hitlergegner und Bürgersohn Harro Schulze-Boysen. 1992 wurde ich mit einer biografischen Studie zu Harro Schulze-Boysens promoviert. In dieser Zeit war ich in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand an der Vorbereitung einer ersten Konferenz zu den Berliner Freundes- und Widerstandskreisen und einer ersten Wanderausstellung beteiligt.

Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, und Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Generalstab der Luftwaffe, informierten einen Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft seit Ende 1940 über die beginnenden Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion. Stalin bezeichnete die Warner aus Berlin noch vier Tage vor dem 22. Juni 1941 als Desinformanten. Der vereinbarte Funkverkehr nach Moskau kam nicht zustande, da die meinem Vater übergebenen Funkgeräte über eine zu geringe Reichweite verfügten.

Mein Einblick in Widersprüche, Zusammenhänge und Zusammenhalt der illegalen Arbeit war zugleich mit einer Annäherung an das Leben meiner Eltern verbunden, Ihre Motive, ihren selbstlosen Einsatz, ihren Mut, ihre Liebe und ihre Entschlossenheit trotz aller Gefahren konnte ich besser verstehen. In ihrem Leben und Handeln berührten sich Politisches und Privates, Alltag und Widerstand.

Sie beteiligten sich an vielfältigen Aktivitäten, so an der Zettelklebeaktion gegen die im Lustgarten aufgebaute antisowjetische Propagandaschau „Das Sowjetparadies“. Meine Mutter und ihre Freundin Grete Jaeger hörten Ende 1941 den Moskauer Rundfunk. Sie notierten sich die von deutschen Kriegsgefangenen genannten Adressen und gaben ein Lebenszeichen an ihre Verwandten weiter.

Der im Kalten Krieg wiederbelebte Gestapo-Mythos „Rote Kapelle“ diente in der Bundesrepublik dazu, die überlebenden Gegner des Naziregimes zu denunzieren und die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung zu schüren. Der Makel des Landesverrates lag weiterhin auf den Frauen und Männern der „Roten Kapelle“ und beeinflusste die historische Wertung, verbunden mit einer nochmaligen, nicht nur moralischen Diffamierung der Toten und Überlebenden. Frühere Gestapobeamte wirkten im BND und im Verfassungsschutz. Gemeinsam mit dem Staatsanwalt Roeder und den Richtern des Reichskriegsgerichtes waren sie Stichwortgeber und gefragte „Experten“ für zahlreiche Veröffentlichungen.

Meine Recherchen in Moskauer Archiven verdeutlichten, dass die Berliner Widerstandskreise weder von der Auslandsleitung der KPD in Moskau angeleitet wurden noch dem sowjetischen Auslandsnachrichtendienst angehörten. Die „Rote Kapelle“ – ursprünglich ein Fahndungsbegriff zunächst der Funkabwehr und dann der Gestapo – war ein heterogenes Netzwerk weltanschaulich und politisch unterschiedlicher und 1941/42 lose miteinander verbundener Widerstandskreise. Sie sind integraler Bestandteil des deutschen Widerstands gegen das Nazi-Regime.

Seit Anfang der 1990er Jahre konnte ich in Publikationen, Dokumentarfilmen, Features und auf Tagungen in Deutschland, Israel, Belgien und Italien dazu beitragen, die „Rote Kapelle“ auf neue Weise zu erzählen. Als Metapher hat die „Rote Kapelle“ eher einen Bezug zu einem vielstimmigen Orchester.

Hans Coppi: Weitere Veröffentlichungen zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung, zum Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, zu Ilse Stöbe, zum Antifaschismus und zur Erinnerungs- und Gedenkpolitik.