Meine Mutter Erika von Brockdorff wurde vom Reichskriegsgericht wegen ihrer Zugehörigkeit zu der Widerstandsgruppierung Rote Kapelle zum Tode verurteilt und am 13. Mai 1943 in Plötzensee ermordet.
Als mein Vater Ende 1945 aus der englischen Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, war ich natürlich sehr glücklich, wenigstens einen Vater zu haben. Da ich erst 1945 von der Ermordung meiner Mutter erfahren hatte, stellte ich ihm viele Fragen, über meine Mutter und ihr Wirken in dem Widerstandskreis erfuhr ich von ihm gar nichts. Er wollte wohl unter die Vergangenheit den berühmten Schlussstrich ziehen. Einstweilen war er wohl auch damit beschäftigt, sein ziviles Leben wieder aufzubauen. Wir zogen recht schnell in den östlichen Sektor Berlins, wo beide, mein Vater und meine neue Stiefmutter Eva Lippold, arbeiteten. Ich kam erst mal in Kinderheime und 1949 in ein Internat nach Thüringen. Ich empfand mich als ungeliebt und abgeschoben.
Als ich dann endlich 1951 bei meinen Eltern am Stadtrand von Berlin leben „durfte“, fragte ich meinen Vater einmal, warum meine Mutter ermordet worden war. Er gab mir die lapidare Antwort, dass die Überlebenden der Roten Kapelle den „sowjetischen Genossen“ versprochen hätten, über ihren Widerstand zu schweigen, denn der Kampf sei noch nicht zu Ende. Mehr konnte ich von ihm nicht erfahren und das verunsicherte mich sehr. Auch die Fotos von ihr versteckte er. Ich fand sie später zufällig und musste sie mir heimlich „klauen“.
In Berlin-Pankow besuchte ich die Wilhelm-Pieck-Schule und hier begann es, dass mir bei jedem Fehler oder unerwünschtem Verhalten meine Mutter vorgehalten und mir auch immer wieder gesagt wurde, ich würde mich ihrer nicht würdig erweisen. Das ging eigentlich bis zu meinen Abitur, bis ich eines Tages davon genug hatte und meinem Vater erklärte, ich wolle nicht mehr nur die Tochter von Erika von Brockdorff, sondern ich selbst sein. Gleichzeitig wurde auch immer wieder betont, dass die Widerstandsgruppe Schulze-Boysen-Harnack – dies war die parteioffizielle Bezeichnung – unter Leitung der KPD agiert habe. Der Abschiedsbrief meiner Mutter an meinen Vater wurde immer mal wieder veröffentlicht, allerdings nur die dem Regime passenden Passagen. Ich kam in dem Brief gar nicht vor und das kränkte mich zusätzlich. Ich lernte einen Peruaner kennen und „durfte“ nach einem längeren Nervenkrieg die DDR verlassen. Das empfand mein Vater, zu dem ich kaum noch Kontakt hatte, als Verrat.
In Peru und später in der Bundesrepublik sprach mich niemand auf meine Mutter an und wir waren auch einfach damit beschäftigt, unser Leben dort neu zu organisieren. Sowieso wurde die Rote Kapelle in der BRD als sowjetische Agentengruppe diffamiert. Erst nach 1989 gab es die Möglichkeit, in russischen und anderen Archiven nach Informationen über die Rote Kapelle zu forschen. Diese neuen Erkenntnisse wurden auf zwei wichtigen Konferenzen vorgestellt. In der begleitenden Ausstellung sah ich Fotos von mir und meiner Mutter, die ich nicht kannte. Auf Nachfrage bei dem Leiter der Gedenkstätte Professor Tuchel erhielt ich die Auskunft, dass dort im Archiv sehr viel Material über meine Mutter vorhanden sei.
Bei Durchsicht der Materialien gewann ich ein neues anderes Bild meiner Mutter und fand darin auch den Abschiedsbrief meiner Mutter an mich. Das war 2006, also nach 63 Jahren! Der Brief war in der Haft als Kassiber an Ina Lautenschläger gegangen, die überlebt hatte. Für mich waren die Zeilen meiner Mutter ein großes Erlebnis und eine große Freude. Ich war sehr gerührt mit welcher Liebe und Sorge meine Mutter noch am Ende ihres Lebens an mich gedacht hatte und wie viel gute Wünsche sie mir auf den Weg gab.
Ich hatte mich schon vorher bei der Zeitzeugenbörse Berlin vorgestellt, aber nun konnte ich mit viel mehr Elan und auch Herzblut über meine Mutter berichten. Seit nunmehr 12 Jahren spreche ich vor Schülern in Berlin und an anderen Orten in Deutschland, vor deutschen und ausländischen Schülern und Schülergruppen, amerikanischen Touristen und in einem Erzählcafé über meine Mutter und die Rote Kapelle.
Sogar ein Theaterstück wurde von Schülern und uns Zeitzeugen erarbeitet und mehrere Male im Theater an der Parkaue aufgeführt. Dabei wurde der Abschiedsbrief meiner Mutter an mich verlesen. Dieser Brief war immer der Höhepunkt der Veranstaltung. Ich ließ ihn von einer Teilnehmerin oder meiner Übersetzerin vorlesen. Er zeigt meine Mutter sehr anschaulich als eine zutiefst liebende und besorgte Frau.
Jedes Mal treffe ich auf sehr berührte und respektvolle Zuhörer der Veranstaltung und freue mich sehr über diese Reaktion. Schüler sagten mir, dass sie davon viel mehr mitnehmen würden als aus den Geschichtsbüchern. Ich habe mir die Aufklärung und Information über den Widerstand der Roten Kapelle zur Altersaufgabe gemacht. Unnötig zu sagen, dass mir diese Arbeit in all den Jahren dabei geholfen hat, den Schmerz über den Verlust meiner Mutter auf kreative Art zu verarbeiten.