Meine Großmutter, Nanette Isner wurde am 17.9.1879 in Nürnberg geboren. Sie hat sieben Kinder großgezogen, die Jüngste war meine Mutter. Mein Großvater Julius Isner war zuletzt Synagogendiener. Er starb bereits 1926, als meine Mutter neun Jahre alt war. Ich weiß leider nicht viel über meine Großmutter. Nur dass sie sehr musikalisch war. Sie spielte gern Klavier. Einmal war sie so in ihr Spiel vertieft, dass sie vergaß, für die Kinder das Mittagessen zu kochen. Sie schickte dann eines der Kinder zum Bäcker und es gab zum Mittag Streuselkuchen.
Meiner Mutter sowie zwei Schwestern und zwei Brüder gelang es noch vor Beginn des zweiten Weltkriegs zu emigrieren. Meine Mutter arbeitete zuerst als Hausangestellte in England und fand dort später Anschluss an die Freie Deutsche Jugend, eine Organisation, die zunächst von Jugendlichen verschiedener antifaschistischer Exilgruppen gegründet wurde. Später wurden aber auch viele Jugendliche Mitglied, die mit dem Kindertransport nach Großbritannien gekommen waren. Bei der Arbeit in der FDJ lernte meine Mutter auch meinen Vater kennen, der als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes schon 1933 aus Deutschland emigrieren musste.
Meine Großmutter, wie auch die beiden ältesten Geschwister meiner Mutter, schafften es nicht mehr, Deutschland zu verlassen. So wurde meine Großmutter am 29. November 1941 in das Ghetto Riga deportiert und am 5. Februar 1942 dort ermordet. Erst vor einigen Jahren erfuhr ich aus den Unterlagen eines Bruders meiner Mutter, wie viele Personen aus meiner Familie während des Holocaust ermordet wurden. Mein Onkel Hans schrieb 1947: Im Dezember 1941 wurden meine noch in Nürnberg lebenden Angehörigen (Mutter, ein Bruder, eine Schwester, ein Schwager, zwei Onkel, drei Tanten) in ein Vernichtungslager nach Polen abtransportiert und sind seitdem verschwunden. Ein Vetter, ein Onkel, zwei Tanten und zwei Kusinen sind durch Aktionen der Nazis ebenfalls umgekommen.“
Schon lange hatte ich mir vorgenommen, die Stadt Riga zu besuchen, um Näheres über den Tod meiner Großmutter zu erfahren. So entschloss ich mich, im März 2014 mit einer Gruppe von Antifaschisten nach Riga zu fahren. Der Anlass war, dass seit 1991 Jedes Jahr am 16. März in Riga der sogenannte „Tag der Legionäre“ begangen wird. Seit 1991 werden an diesem Tag ein Gottesdienst, ein Ehrenmarsch und eine fahnengesäumte Kundgebung am Freiheitsdenkmal zu Ehren der lettischen Einheiten der Waffen-SS abgehalten. Daran nahmen auch auch Abgeordnete des lettischen Parlamentes und Minister der Regierung teil.
Die lettische Legion, die jährlich am 16. März geehrt wird, hatte Hitler Treue zu schwören und wurde ein Einsätzen zur Durchführung von Massenmorden an der Zivilbevölkerung in Lettland, Russland und Belarus beteiligt. Die Einheiten wurden zur Überwachung des KZ Salaspils Bei Riga und zu Massenerschießungen im Wald von Bikernieki eingesetzt. Zahlreiche Angehörige dieser „Legionen“ waren schon vor ihrem Eintritt in die Waffen-SS am Massenmord an den lettischen Juden beteiligt. Für mich ist es unerträglich, dass dort Menschen geehrt werden, die vermutlich auch an der Ermordung meiner Großmutter beteiligt waren. Deshalb war es mir wichtig, dagegen vor Ort zu protestieren und auch die lettischen Antifaschisten bei ihrem Protest zu unterstützen. Wir wurden damals vom lettischen Staat sehr unfreundlich empfangen. Schon an der Grenze, die ja eigentlich EU-Binnengrenze ist, stoppte die Polizei unseren Bus und kontrollierte stundenlang unsere Ausweise. Kurz vor Riga wurden wir noch einmal gestoppt und der Bus eingehend untersucht. So kamen wir erst mehrere Stunden später als geplant in Riga an.
Am nächsten Tag sahen wir einen langen Zug von etwa 1500 Demonstranten aller Generationen. Es stimmte mich traurig zu sehen, dass auch viele junge Menschen in Lettland mitmarschierten, die anscheinend sehr wenig über die tatsächlichen Vorgänge in Lettland im Zweiten Weltkrieg wissen. Angenehm war es jedoch zu spüren, dass unser Protest damals auch Zustimmung erfuhr. Besonders erinnere ich mich an eine alte russische Frau die auf uns zukam und auf Russisch spassibo – danke sagte.
Unsere Anwesenheit, unsere Transparente, Fahnen und Plakate haben großes Aufsehen erregt. Zustimmung und Ablehnung begegneten uns. Aber auch viel Interesse, woher wir kamen und warum wir gekommen sind. Wir haben ein sichtbares Zeichen für ein antifaschistisches Europa gesetzt. Es Die in Riga demonstrierte Erinnerungskultur, in der die Täter von einst zu Opfern von heute werden, gehört nicht dazu. Dies sollte auch die Europäische Kommission und das Europäische Parlament endlich zur Kenntnis und zum Anlass nehmen, sich von dieser Art von Erinnerungskultur eindeutig zu distanzieren. Stattdessen feierte sich im Jahre 2014 die lettische Metropole als Kulturhauptstadt Europas. Mit sechs Jahren Vorlaufzeit hatte ein europäisches Expertengremium den Titel vergeben.
Rita Bock, geboren 1948 in Berlin, studierte Mathematik in Leningrad, arbeitete als Programmiererin.