Mein Leben begann ich als Emigrant der ersten Stunde: Noch im Berlin der Weimarer Republik 1932 geboren, fand ich mich sechs Monate später in Prag wieder. Meine Mutter war, mit mir im Kinderwagen, meinem Vater dorthin gefolgt, wo er seit seiner Flucht aus Deutschland im März 1933 seine Verlagsarbeit für die exilierte Arbeiter-Illustrierte-Zeitung fortsetzte. So verbrachte ich meine Kindheit als Asylant − erst drei Jahre in Prag, danach fast acht Jahre in Frankreich.
Ich erlebte diese Zeit ganz ursprünglich, ohne Vorbehalt. Ich kannte nur dieses selbsterlebte Leben − Vergleiche mit anderem Leben in einem anderen Land kannte ich nur aus Erzählungen meiner Eltern und ihrer Freunde. Zuhause war es eine Selbstverständlichkeit, gegen Hitler zu sein und ich bewunderte meinen Onkel Kurt, von dem ich im Alter von fünf Jahren erfuhr, dass er in Spanien mit der Waffe in der Hand gegen die Faschisten kämpfte.
In der Nacht vom 1. auf den 2. September 1939 erlebte ich in Paris die Verhaftung meines Vaters. Ich sah ihn erst im Mai 1945 in Berlin wieder, nachdem er von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden war. Da hatte er das Schlimmste hinter sich, und ich auch: 1944 war ich mit meiner Mutter unter Gestapodruck nach Berlin gekommen. Sie kehrte zurück, als Deutsche. Ich aber war in Frankreich aufgewachsen und eingeschult worden und kannte Deutschland nicht. Ich empfand Frankreich als Heimat und hatte diese nun verloren.
In Deutschland erlebte ich von Januar 1944 bis April 1945 in Berlin den fürchterlichen Bombenkrieg. In dieser Zeit erfuhr ich von der Hinrichtung meines Onkels Kurt in Plötzensee am 10.9.1943, von der Verhaftung meines Onkels Walter, der dann im Frühjahr 1945 auf einem Gefangenentransport nach Bayern erschlagen wurde und von der Inhaftierung meines Onkels Hans in Sachsenhausen, der später Dank des Schwedischen Roten Kreuzes dem Todesmarsch entkam. Mit diesem Gepäck trat ich nach der Befreiung ins weitere Leben und wusste, wohin ich gehöre und auch, was ich tun musste.
Ich habe mich lange geschämt, auch Deutscher zu sein. Angehörigen von ermordeten französischen Widerstandskämpfern, die die DDR besuchten, traute ich mich nur in die Augen zu sehen, weil immerhin in meiner Familie auch Widerstand geleistet worden war.
In den fünfziger Jahren war ich als Westberliner FDJler aus Reinickendorf an den Protesten gegen die neonazistische Deutsche Partei beteiligt, die von schlagkräftigen Polizisten unterstützt wurde. Ich hätte nie geglaubt, in den neunziger Jahren in Lichtenberg mit Neonazis konfrontiert zu sein. Und doch passierte es, so dass wir uns in einer Initiative gegen Rechts zusammenschließen mussten, um ihnen entgegen zu treten.
Als französischsprachiger Redakteur bei Radio Berlin International konnte ich zu DDR-Zeiten viele Sendungen mit französischen und mit deutschen Résistance-Kämpfern gestalten. Ich bin auch vor Schulklassen zu diesem Thema und der Geschichte meiner Familie aufgetreten − in Deutsch und Französisch, vor allem nach 1990. In diesem Jahr hat eine französische Zeitschrift meinen Beitrag über Carl Matiszik, deutscher Kommandeur einer französischen Résistance-Einheit, veröffentlicht. Das lag mir sehr am Herzen.
Mein Buch über den Ausbruch aus dem französischen Geheimgefängnis in Castres am 16. September 1943 wurde 2009 in Frankreich und 2012 in Deutschland veröffentlicht. Es war das Ergebnis zehnjähriger Recherchen über das Gefängnis, aus dem die französische Kollaborationsregierung deutsche Antifaschisten an die Gestapo auslieferte − dabei mein Onkel Kurt. Aber in dem Gefängnis waren Hitlergegner aus 18 verschiedenen Ländern eingesperrt, unter ihnen Interbrigadisten, die die ersten dort waren, dann alliierte Geheimdienstoffiziere, abgeschossene amerikanische Piloten, französische Funker und ihre Helfer aus dem Widerstand … So erklärt sich, dass die 35 gemeinsam ausgebrochenen Häftlinge aus elf verschiedenen Ländern stammten. Ihnen war eine sensationelle Flucht aus eigener Kraft, von innen heraus, gelungen. Und sie kehrten in den Widerstand zurück.
Ich bin jetzt 85 Jahre alt, das setzt meinen Aktivitäten Grenzen. Aber gerade erreichte mich eine Nachricht, die mich sehr froh gestimmt hat: Eine französische Geschichtslehrerin aus der Stadt Castres bewirbt sich mit ihrer Klasse um die Teilnahme an dem in Frankreich jährlich stattfindenden Schulwettbewerb mit Projekten über die Résistance. 2019 steht dieser Wettbewerb unter den Stichworten: „Unterdrückungen und Deportationen“. Die Lehrerin hat als Studienobjekt gewählt: Das Gefängnis in Castres im Zweiten Weltkrieg. „Dessen Geschichte“, so schrieb sie mir im September 2018, “dank Ihnen der Vergessenheit entrissen worden ist“. Sie erklärte dann, sie sei entschlossen, meine Nachfolge für weitere Forschungen anzutreten.
Ich werde ihrer Bitte folgen, Fragen ihrer Schüler zu beantworten und sie zu beraten.