An die
Bundestagsfraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen, FDP, Die Linke
Wir, Nachkommen von Menschen, die den Holocaust überlebten, die aktiv Widerstand gegen den Hitlerfaschismus leisteten, die in deutschen Konzentrationslagern und unter Zwangsarbeit gelitten haben, und die letzten noch Lebenden, die dem faschistischen Terror entkommen sind, wenden uns mit diesem Brief an die demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag.
In der ersten Februarwoche dieses Jahres gab es einen massiven Angriff gegen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), der in der neurechten Zeitung „Junge Freiheit“ begonnen und von verschiedenen Medien des Springerkonzerns aufgegriffen wurde. Hintergrund war ein Gastbeitrag zum NSU der damaligen Landesvorsitzenden der hessischen SPD, Frau Nancy Faeser, in der Zeitschrift „Antifa“, der Zeitung der VVN-BdA. Woher diese Aufregung? Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ist die älteste antifaschistische Organisation in Deutschland, gegründet vor 75 Jahren in Frankfurt am Main von Überlebenden des Holocaust, von Widerstandskämpfern gegen den Hitlerfaschismus, die Lager- und Zuchthaus, Illegalität und Exil überlebt haben, von Deutschen, die in der Résistance und in den Armeen der Alliierten für die Befreiung Europas vom Faschismus kämpften. Seitdem steht der Kampf der VVN-BdA unter dem Motto des Schwurs der Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“.
Diesem Ziel fühlten sich unsere Eltern und Großeltern nach der Befreiung in Europa und anderswo verpflichtet, diesem Ziel und der Bewahrung der Zeugenschaft für zukünftige Generationen fühlen wir, die Nachkommen, uns heute verbunden.
Wir bringen uns als Nachkommen aktiv ein in die gesellschaftlichen Diskussionen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, gegen zunehmenden Antisemitismus und Antiziganismus, gegen Rechtsnationalismus, Rassismus und Geschichtsrevisionismus sowie für die Bewahrung des Friedens und der Einhaltung der Menschenrechte. Wir sehen uns angesichts der tragischen Erfahrungen unserer im NS verfolgten Angehörigen und ihres antifaschistischen Kampfes in der Pflicht, die verfassungsrechtliche demokratische Grundordnung unserer Republik gegen jegliche neonazistische, rechtspopulistische sowie nationalistische Angriffe zu verteidigen. Dies beinhaltet auch ein aktives Eintreten gegen alle Tendenzen, die gegen demokratische Institutionen und die Erosion der Grundrechte gerichtet sind. Wir stehen dabei solidarisch an der Seite der Nachkommen der im NS Verfolgten und aller Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa und der Welt.
Für uns ist es daher an der Zeit, in eine gesellschaftliche Diskussion einzutreten, wie es sein kann, dass ein Landesamt für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland eine eingetragene Vereinigung, in der sich Überlebende der deutschen Konzentrationslager und Tausende Antifaschist*innen unterschiedlicher Konfession und Weltanschauung zusammenschließen, diffamiert und als „linksextremistisch beeinflusst“ bezeichnet. Wieso kann ein Verfassungsschutz in seinem Bericht (Bayrischer Verfassungsschutzbericht 2020, Seite 258) unwahr über die VVN-BdA behaupten: „Vielmehr werden alle nicht marxistischen Systeme – also auch die parlamentarische Demokratie – als potenziell faschistisch, zumindest aber als eine Vorstufe zum Faschismus betrachtet, die es zu bekämpfen gilt“? Mit Rückendeckung des Berliner Finanzsenators nahm jedenfalls das Berliner Finanzamt für Körperschaften im Jahr 2021 seine Entscheidung zurück, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Nicht die VVN-BdA gehört beobachtet und auf den Prüfstand, sondern eine Behörde, die die älteste antifaschistische Organisation als „linksextremistisch beeinflusst“ einstuft. Wie soll auf dieser Basis einem Rechtsblock begegnet werden, wie er sich exemplarisch gegenwärtig gegen die Innenministerin Nancy Faeser von der „Jungen Freiheit“ bis zur Springer Presse, von der AfD bis zu Vertretern der CDU formiert?
Wir stimmen der Auffassung von Frau Faeser aus ihrem Beitrag in der „Antifa“ vom 03.07.2021 ausdrücklich zu, dass der Kampf gegen Faschismus und Rechtsextremismus, gegen Rassismus und völkische Ideologien zum Alltag jedes Demokraten und jeder Demokratin gehören muss, weil Freiheit und Demokratie jeden Tag aufs Neue gegen ihre Feinde verteidigt werden müssen.
In diesem Sinne wollen wir gemeinsam für eine demokratische Welt ohne Faschismus und ohne Krieg eintreten.
Erstunterzeichner*innen
Friedel Beier
Rita Bock
Michael Brie
Hans Coppi
Hans-Joachim Gutmann
Ellen Händler
Jutta Harnisch
Gerhard Langguth
Charles Melis
Eva Nickel
Edith Pfeiffer
Elke Tischer
Mathias Wörsching
Karin Wüsten
Thomas Wüsten
Michael Fleischhacker
Jana Meister
weitere Überlebende und Nachkommen
André Lohmar
Christina von Braun
Oswald Schneidratus
John Sieber
Sabine Reichwein
Johann Colden
Max Putziger
Dr. Anneli Heiger
Anke Plener
Jan Groscurth
Ellen Hünigen
Marina Garbusowa
Dr. Irene Runge
Andrej Hermlin
Sonja Kosche
Wolfgang Friedler
Dr. Martin Holtzhauer
Petra Schneiderheinze
Wolfgang Herzberg
Klaus Lemmnitz
Anne Tischer
Fabian Tischer
Trille Nina Schünke-Bettinger
Frank-Uwe Albrecht
Vera Dehle-Thälmann
Andrej Reder
Raja Gutmann
Klaus Aßhauer
Johanna Mauer
Antje Kosemund
Hans Holm
Klaus Dimler
Tanja Gutmann
Ilse Langguth