Hans Coppi – Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bauen

Geleitwort zur Broschüre „Nachkommen der Verfolgten des Naziregimes, von Exil und Widerstand, melden sich zu Wort (2019)“ der Berliner VVN-BdA e.V.

Unsere Vorfahren leisteten in vielfältiger Weise Widerstand gegen den Naziterror in Deutschland und führten ihn auch weiter, nachdem sie sich ins Exil retten mussten. Sie kämpften für Spaniens Freiheit, in den Armeen der Anti-Hitler-Koalition oder als Partisanen. Sie überlebten Deportationen in Ghettos, Konzentrationslager, Zuchthäuser, Gefängnisse, Zwangsarbeit und Repressionen im sowjetischen Exil. Viele, viel zu viele unserer Familienangehörigen überlebten ihre Verfolgung nicht. Sie starben unter entsetzlichen Bedingungen, wurden im Holocaust, in Lagern und Hinrichtungsstätten ermordet oder Opfer des Stalinistischen Terrors.

Von den Widerstands-, Exil- und Verfolgungsgeschichten in ihren Familien geprägt, treten in den vergangenen Jahren immer mehr Nachkommen mit Publikationen, Dokumentarfilmen, Lesungen und Ausstellungen an die deutsche Öffentlichkeit. Sie verlegen Stolpersteine, enthüllen Gedenktafeln für ihre Angehörigen, beteiligen sich an Protesten gegen Radikalnationalisten, Rechtsextremisten und den Versuch einer Geschichtsrevision. Sie sind gefragte Gesprächspartner an Schulen und in der politischen Bildung geworden. Dabei zeigt sich, dass wir als Nachfahren eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bauen und auf diese Weise auch Jugendliche erreichen können. Wir vermitteln ihnen einen Einblick in (weitgehend unbekannte) antifaschistische Lebensgeschichten. Diese Erfahrungen vertiefen historisches Wissen und können die Zuhörenden zugleich anregen, die eigene Familiengeschichte zu befragen.

Mit unserem öffentlichen Auftreten bereichern wir die in Jahrzehnten gewachsene Erinnerungskultur und verteidigen sie zugleich gegen die Angriffe von Rechtsnationalisten und aus den Reihen der AfD. Wir bezeugen mit unserer Existenz und unserem Auftreten, Widerstand, Exil und Verfolgung in unseren Familien und halten die Erinnerung daran wach.

Um diese Arbeit ausbauen zu können, benötigen wir einen noch größeren Kreis von Mitstreiterinnen und Mitstreitern, aber auch Kooperationspartner in Schulen, gedenk- und erinnerungspolitischen Initiativen und Gedenkstätten.

Drei Frauen, Angehörige von Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944, haben zum Gedenktag einen Aufruf für ein vereintes Europa veröffentlicht. Diese Botschaft mit mehr als 400 Unterschriften prangte am 20. Juli 2018 auf der ersten Seite des Berliner Tagesspiegels. Darin heißt es “Statt gemeinsam an den Herausforderungen der Zukunft zu arbeiten, ziehen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger zurück, während Populisten mehr und mehr Zulauf erhalten, Politiker verbal aufrüsten und auf Abschottung setzen. Das ist nicht das Vermächtnis, das die Männer und Frauen des 20. Juli, aus der Arbeiterbewegung, der Roten Kapelle und weiterer Widerstandskreise im Sinn hatten. Mit ihrem Widerstand haben sie ein Zeichen gesetzt, das heute noch genauso gilt wie damals: Es erfordert Mut und Zivilcourage, um Recht, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.“

Wir sollten uns als Nachkommen noch mehr als bisher in den Debatten überzunehmenden Antisemitismus, Rechtsnationalismus, Rassismus und Geschichtsrevisionismus das Wort ergreifen. Wichtig wäre, dass wir uns dafür noch besser vernetzen, uns besser kennenlernen. Wir sollten nicht nur gemeinsam Geschichte und Gegenwart reflektieren, sondern auch gemeinsam handeln und Allianzen schmieden.

Als ich vor vier Jahren zu einem „Kindertreffen“ der Stiftung 20. Juli eingeladen wurde, habe ich die Literaturagentin Elisabeth Ruge kennengelernt. Ihr Großvater, der am 10. August 1944 in Plötzensee hingerichtete Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, gehörte zum inneren Kreis der Verschwörer. Elisabeth Ruge und ich haben die Initiative ergriffen, kurz darauf Nachkommen aus Widerstandskreisen des 20. Juli, dem Arbeiterwiderstand, der Roten Kapelle und anderer Widerstandsgruppen sowie aus dem Exil zusammenzuführen und zu einem ersten Berliner Angehörigentreffen einzuladen. Die Journalistin Gemma Pörzgen, Enkeltochter des christlichen Gewerkschafters Heinrich Körner, der ebenfalls zum 20. Juli gehörte, geht in ihrem Beitrag auf die Folgetreffen ein.

Die Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 stellte im Februar 2015 zum ersten Mal ihre jährliche Tagung unter das Motto „Seid einig, einig gegen Hitler! – Formen, Ziele und Motive des Widerstands von links“. An dieser für alle Beteiligten interessanten Tagung nahmen meine Historiker-Kollegen Bärbel Schindler-Saefkow (siehe auch ihren Beitrag in dieser Broschüre), Stefan Heinz und ich als Referenten und Gesprächspartner teil.

Am 21. Juli 2015 erschien im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ ein längerer Artikel von Elisabeth Ruge und der Historikerin Frauke Geyken unter dem Titel „Die Untoten“. Einleitend schrieben sie: „In den Netzwerken des Widerstands fanden sich während der Nazizeit die anderen besseren Deutschen.“ In diesem Artikel wurde ein ganz neuer Ton angeschlagen: Es bildeten sich auch außerhalb des 20. Juli Netzwerke, die um einiges bunter und größer waren als bislang dargestellt. Dazu gehörte der im Westen lange Zeit verschmähte Widerstandes der Roten Kapelle und eine der größten Berliner Widerstandsorganisationen um die Kommunisten Anton Saefkow, Franz Jacob und Bernhard Bästlein mit ihren vielfältigen Widerstandsaktivitäten und Tuchfühlungen zu Mitstreitern des 20. Juli und des Kreisauer Kreises.

In den frühen Nachkriegsjahren erinnerten gemeinsame Gedenkveranstaltungen an die Opfer des Faschismus, kurze Zeit getragen von Überparteilichkeit, Überkonfessionalität und gleichberechtigte Nebeneinander verschiedene Weltanschauungen und Überzeugungen. Sie knüpften an Erfahrungen und Lehren aus Widerstand wie auch Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern an. Im bald nach 1945 beginnenden Kalten Krieg wurden die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Widerstandsgruppen zunehmend von dem politischen Gegensatz der sich auseinander entwickelnden gesellschaftlichen Systeme in Ost und West überlagert. Aus solidarisch verbundenen Mitstreitern wurden in einigen Fällen über lange Jahre ideologische Gegner.

Heute erfahren wir bei den Angehörigentreffen und in den für alle Nachkommen offenen Workshops wieder mehr über die Vielfalt des deutschen Widerstands. Wir betonen nicht mehr so sehr das das Trennende, sondern entdecken in den Familiengeschichten viel Verbindendes wieder. Schließlich gab es das gemeinsame Ziel, das Nazi-Regime zu bekämpfen und zu überwinden.

Trotz aller Fortschritte in der mühsam errungenen Erinnerungskultur in Deutschland haben die zwölf Jahre des Widerstandes gegen das Naziregime – sei es in Deutschland oder im Exil – zu wenig Spuren im öffentlichen Bewusstsein und im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Es ist unsere Aufgabe als Angehörige – auch angesichts neuer Bedrohungen durch das Wiedererstarken rechtsnationalistischer Bewegungen – gemeinsam daran zu arbeiten, dass sich dies verändert. Unsere Broschüre möchte dazu ihren Beitrag leisten.

Hans Coppi ist Ehrenvorsitzender der Berliner VVN-BdA und Freier Mitarbeiter an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.