Die Familiengeschichte aufschreiben – Hinweis für angehene Autor*innen

von Sarah Pohl

Die Quellen

Auswertung von Oral History – Gespräche mit den Zeitzeugen

Die Aufgabe des Lektorats ist es, historische Angaben zu überprüfen (quellenkritische Auseinandersetzung), da Zeitangaben und -empfinden stets subjektiv geprägt sind. Widersprüche zu anderen Zeitzeugenberichten müssen dabei nicht hinterfragt werden, insofern sie keine allgemeinen historischen Angaben betreffen, da:
• Erinnerungen können lückenhaft sein
• Erinnerungen können sich verändern und vermischen mit anderen Berichten aus Büchern, Fernsehen, Zeitungsberichten
• Dilemma des Lektorats: bei eindeutigen „Vermischungen“ bekannter Sequenzen (z.B. aus „Schindlers Liste“ Autor angemessen darauf hinweisen, ggf. nochmal nachfragen, auf Traumatisierung achten, auf mögliche „Vermischung“ hinweisen (z.B. Fußnote, Vorwort etc.)

Auswertung von Oral History – Gespräche mit den Betroffenen

Zeitzeugenberichte sind immer subjektiv und vielschichtig! Stellen sie persönliche, offene Fragen. Statt „Wie war es, als die Russen einmarschiert sind?“ fragen Sie besser: „Wie war deine Situation, als du den ersten russischen Soldaten begegnet bist?“
Hier ein möglicher Fragenkatalog als Leitfaden: Familiärer Hintergrund, Schule, Freizeit, Kriegserfahrung, Kriegsende, Nachkriegszeit bis 1949, 1949 bis heute? Wie sah es an einem bestimmten Ort aus? Wie viele Menschen waren da? Wie hießen die Menschen? Was hatten sie an? Was hast du gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt?

Auswertung von Tagebüchern, Briefen, schriftlichen und persönlichen Zeugnissen

Untermauern Sie die Auswertung von Oral History mit schriftlichen Zeugnissen untermauern (wenn möglich). Achten Sie bei der Recherche von Dokumenten und Abbildungen auf die Bildqualität. Bilddateien und Scan sollten in hochauflösender Qualität vorliegen (mindestens 300 dpi). Klären Sie die Bildrechte: Wem gehör(t)en die Fotos? Was zeigen sie? Wer hat sie aufgenommen? Eine Faustregel für das Urheberrecht: Es gilt für Fotos bis 25 Jahre nach dem Tod des Urhebers, sich bei Archivmaterial immer nach einer Abdruckgenehmigung zu erkundigen! Überlegen Sie sich Bildunterschriften!

Motive und Ziele des Schreibens Angehöriger aus 2., 3. oder 4. Generation

Machen Sie sich als erstes Gedanken über Ihre Zielgruppe: Für wen schreibe ich? Für die Familie? Für mich? Für weitere Angehörige? Zur Publikation gedacht?

Wichtige inhaltliche Fragen für das Aufschreiben der Familiengeschichte sind: Was möchte ich mitteilen? Was sollte vermieden werden? Was ist zu persönlich?

Aus welcher Perspektive wollen Sie schreiben? Erzählende Perspektive auf die Vorfahren? Eigene Perspektive und Auswirkungen der Shoah auf das eigene Leben?

Beachten Sie die Möglichkeit auftretender Traumatisierungen. Das Schreiben kann jedoch auch Heilungsprozess und Aufarbeitung sein. Wägen Sie hier eine mögliche Tabuisierung von Themenfeldern und Akzeptanz des Ungesagten ab.

Überlegungen zu Papier bringen

Welche Form soll die Familiengeschichte annehmen?
• Sachlicher Bericht
• Roman?
• Lyrik?

Sachlicher Bericht: Vermeiden Sie Beschönigungen und Ausschmückungen (keinen Roman daraus machen)! Lassen Sie „Unterstellungen“ und Mutmaßungen weg. Achten Sie darauf, die Wiedergabe charakterlicher Eigenschaften aus eigener Perspektive stringent darstellen: „Mein Großvater war ein zurückhaltender Mann.“ „Meine Mutter war eine sehr widersprüchliche Frau.“

Beispiele aus dem Verlagsprogramm von Hentrich&Hentrich

Bsp.1: Tagebuch, 1. Generation

Heinz Salvator Kounio: Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot. Das Tagebuch des Gefangenen 109565

„1943: Der 15-jährige Heinz Kounio wird zusammen mit all seinen Familienmitgliedern von den deutschen Besatzern seiner griechischen Heimat inhaftiert und unter entsetzlichen Bedingungen von Thessaloniki ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. 23 Mitglieder seiner Familie und 23 Familienmitglieder seiner späteren Ehefrau wurden gleich nach der Ankunft in Birkenau ermordet. Er selbst arbeitet unter unvorstellbaren Lebensbedingungen 27 Monate lang als Zwangsarbeiter in diesem und weiteren Lagern. Im Mai 1945 wird Heinz Kounio von US-amerikanischen Truppen unter General Patton aus dem Lager Ebensee in Oberösterreich, einem Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen, befreit. In einem Notizbuch vermerkt er stichwortartig seine Erlebnisse. Diese Notizen bilden die Grundlage für Heinz Kounios Autobiographie, in der er die menschenunwürdige Behandlung in den NS-Lagern, das dort herrschende Terrorsystem und die unvorstellbaren Entbehrungen beschreibt, die er während seiner Inhaftierung durchleiden musste.“

>> Für Reflexionen des eigenen Erlebens ist die Ich-Perspektive passender.

Bsp.2: Bericht, Child survivor, 2 Erzählperspektiven

Sonja Mühlberger: Geboren in Shanghai als Kind von Emigranten

Auktoriale Erzählerin: „Sonja Mühlberger wurde 1939 als Tochter jüdischer Emigranten kurz nach deren Ankunft in Shanghai geboren. Frühzeitig lernte sie das entbehrungsreiche Leben des Exils in China unter japanischer Besatzung im Ghetto-Bezirk Hongkew kennen und wurde in den Kampf der Exilanten um das tägliche Überleben eingebunden. Erst 1947 konnten etwa 500 Shanghaier Emigranten nach Deutschland zurückkehren.“

Ich-Erzählerin, aus Sicht der 2. Generation, stellt sich reflektierend in Beziehung zu Vorfahren und rekapituliert: „Im Laufe seines Lebens hatte mein Vater vier Staatsbürgerschaften. Über zehn Jahre war er staatenlos. Er
wuchs mit vier Sprachen auf, lernte dann noch zwei. Geboren im Habsburger Reich, aufgewachsen im Königreich Rumänien, gefangen in der Sowjetunion, folgte er seiner Frau in die DDR und wurde am Ende seines Lebens Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Die einzige Kontinuität war und blieb sein Judentum. Vielleicht war das seine wahre und einzige Heimat …“

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„Ziele, Perspektiven, Herausforderungen“ – die Familiengeschichte Aufschreiben. Hinweise und Austausch für angehende Autor*innen
Sarah Pohl, Lektorat bei Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig
s.pohl@hentrichhentrich.de