Regina Szepansky (*1965) – Nicht allein mit den Deutschen

Mein Vater Wolfgang Szepansky (1910−2018) wuchs in einer kommunistischen Familie auf, mit der er in den 1920er Jahren in einer Agit-Prop-Gruppe auftrat. Ab den dreißiger Jahren war er aktiv im Kommunistischen Jugendverband. Im August 1933 wurde er nach einer Malaktion, bei der er „Nieder mit Hitler! KPD lebt! Rot Front!“ in Kreuzberg an eine Mauer schrieb, verhaftet und kam u a. ins frühe KZ Columbiahaus und in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße. Ende 1933 emigrierte er in die Niederlande und lebte in Amsterdam, bis er 1940 von den Holländern interniert und den Deutschen nach deren Einmarsch übergeben wurde. Im Anschluss kam er ins KZ Sachsenhausen, von 1941 bis 1943 ins Zuchthaus wegen Rassenschande und im Anschluss wieder nach Sachsenhausen zurück. Er überlebte den Todesmarsch Richtung Ostsee, kam zurück nach Berlin und wurde noch 1945 Neulehrer. Im Zuge des Kalten Krieges erhielt er 1951 Berufsverbot und bekam den Status „Opfer des Faschismus“ aberkannt. Erst in den 1970er Jahren wurden ihm Entschädigungsleistungen zugesprochen. Seit den 1980er Jahren war mein Vater bis ins hohe Alter als Zeitzeuge in vielfältigen Zusammenhängen aktiv. 1996 bekam er, gemeinsam mit meiner Mutter Gerda, das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Nicht allein mit den Deutschen

Mich hat das Thema nie richtig losgelassen. Vermutlich habe ich mich auch ganz bewusst in gleichgesinnte Kreise begeben, in denen kaum Ressentiment und Rassismus anzutreffen sind. […] Seit langem arbeite ich bei einem Ausstellungsprojekt, das sich mit den Lebensgeschichten der damaligen jüdischen Bewohner des Bayerischen Viertels in Schöneberg beschäftigt. Gleichzeitig bin ich seit zehn Jahren im Vorstand des Sachsenhausen-Komitees, zu dem ich in Kontakt kam, als ich meinen hochbetagten Vater nach dem Tod meiner Mutter zu gesellschaftlichen Anlässen begleitete. An dieser Tätigkeit hängt mein Herzblut; die Verbundenheit dort ist groß und die Wärme und Herzlichkeit, die mir von den alten Kameraden meines Vaters entgegenkam und -kommt, gilt ein bisschen immer noch ihm, das weiß ich, aber auch der Tochter, die die Arbeit weiterführt. Schließlich habe auch ich die Hoffnung, dass meine Tochter Belana das Andenken mindestens wachhalten wird. Sie hat ihren Opa, der 90 Jahre alt war, als sie geboren wurde, noch kennengelernt und seine Geschichte von ihm selbst gehört, bevor er 2008 im Alter von 97 Jahren starb.

Was nun meine Identität anbelangt, so hat mich die Geschichte meiner Eltern und ihre unermüdliche Aktivität sehr beeinflusst. Von meinem Selbstverständnis her werde ich immer eine Linke bleiben, im Sinne all dessen, was diese Haltung heute für mich ausmacht: Humanismus und Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit, Akzeptanz und Offenheit.

Der Umstand, dass meine Vorfahren keine Nazis waren, ja zum Teil aktiven Widerstand geleistet haben, stellt für mich eine große psychische Entlastung dar. Es ist eine enorme Erleichterung, dass sie keine Schuld auf sich geladen haben. Auch heute noch bin ich oft fassungslos, trotz aller Erklärungsversuche, wie es zu einer solchen kollektiven Entmenschlichung kommen konnte, die so vielen Menschen das Leben gekostet hat; wie menschliches Mitgefühl und Empathie so völlig ausgeblendet werden konnten. In gewisser Weise empfinde ich auch etwas Stolz, dass meine Familie in dieser Zeit nicht auf der Seite der Unmenschlichkeit stand und stattdessen das Richtige getan hat. Gleichzeitig habe ich ein sehr gespaltenes Verhältnis zu meinem Deutschsein. Einerseits liebe ich die deutsche Sprache, sie ist mir ein vertrautes Zuhause, und ich bin auch verwurzelt in der deutschen Kultur. Auf der anderen Seite fühle ich mich nicht ganz zugehörig, die Deutschen sind irgendwie die anderen. Jegliche Entäußerungen von Nationalgefühl […] bereiten mir Unbehagen. Die neuesten Entwicklungen erschrecken mich zutiefst. Islamfeinde, die zu Tausenden auf die Straße gehen und ungebremst Nazi-Schlagwörter wie „Überfremdung“ und „Lügenpresse“ in die Gegend schreien und Transparente tragen mit Aufschriften wie „Meine Heimat bleibt deutsch“ bereiten mir Angst und Übelkeit, und ich schäme mich gewissermaßen fremd dafür, dass es überhaupt möglich ist, dass Deutsche so etwas wieder in aller Öffentlichkeit von sich geben. Gleichzeitig frage ich mich, welche Verheerung wohl auch die DDR-Zeit in den Köpfen angerichtet hat, wo die ganze Völkerverständigung anscheinend doch mehr eine Phrase war. […]

Meine „Heimat“, als der Ort, dem ich mich zugehörig fühle, war immer nur Berlin, speziell West-Berlin. Ein Teil meiner Identität ist heute noch, West-Berlinerin zu sein. Und da der Berliner vor allem in seinem Kiez lebt, empfinde ich mich in erster Linie als Mariendorferin bzw. als Weddingerin, wo ich seit fast dreißig Jahren gerne und aus Überzeugung wohne. Hier ist das Leben vielfältig und bunt, und wenn ich im Wedding herumlaufe zwischen all den unterschiedlichen Menschen, die hier leben – wenngleich alle Berliner –, fühle ich mich sicher und heimisch. Und oft denke ich dann: „Lasst mich bloß nicht allein mit den Deutschen!“

Regina Szepansky ist Religionswissenschaftlerin und Germanistin und arbeitet freiberuflich im Kulturbereich.

Auszug aus dem gleichnamigen Beitrag zum Buch „Beidseits von Auschwitz − Identitäten in Deutschland nach 1945“, Hg. Nea Weissberg und Jürgen Müller-Hohagen, Lichtig Verlag, Berlin 2015, S. 331−337