Mein Vater Kurt Gutmann wurde 1927 in Krefeld in einer deutsch-jüdischen Familie geboren. Er war der dritte und jüngste Sohn des Ehepaares Salomon und Jeanette Gutmann. Nach dem frühen Tod des Vaters zog die Mutter die drei Jungen allein auf. Im Jahr 1934 gelang es ihr, für den mittleren Sohn Fritz einen Platz in einem jüdischen Waisenhaus in Schottland zu bekommen, denn in Deutschland wurde dem guten Schüler der Besuch einer höheren Schule verwehrt.
Mein Vater konnte im Alter von 12 Jahren im Sommer 1939 mit einem der letzten Kindertransporte Deutschland in Richtung Großbritannien verlassen. Für ihn sollte es ein endgültiger Abschied von seiner geliebten Mutter und von seinem ältesten Bruder Hans sein. Er hat oft erzählt, dass die Kinder beim Überschreiten der deutsch-holländischen Grenze das Lied „Nun Ade du mein lieb Heimatland“ anstimmten. Deutschland war und blieb seine geliebte Heimat bis zu seinem letzten Atemzug. Er war nicht bereit, sich seine Heimat streitig machen zu lassen von Nazis und Rassisten. Er kam als britischer Soldat 1945 nach Deutschland zurück und kämpfte vom ersten Tag an dafür, dass ein besseres, ein antifaschistisches, friedliches Deutschland aufgebaut wird. Für ihn war es ein großer persönlicher Sieg über den Faschismus, eine Familie gründen zu können und seine Vorstellungen und Ideale an seine Kinder und Enkel weiterzugeben.
Das große Trauma seines Lebens blieb das Schicksal seiner Mutter Jeanette und seines älteren Bruders Hans. Erst 1996 erfuhr er, dass seine Mutter und sein Bruder 1942/1943 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert wurden. In hohem Alter wohnte mein Vater 2009 als einziger deutscher Nebenkläger dem Prozess gegen den früheren SS-Wächter Demjanjuk bei, der seit 1943 in dem Vernichtungslager an den Mordtaten beteiligt gewesen war. Als Nebenkläger empfinde er keinen Hass, er wolle nur, dass die Menschen die Wahrheit erfahren über das Lager, die Geschichte, die Opfer, zitierte die Berliner Zeitung Kurt Gutmann. Die Wahrheit über diese Geschichte müssen wir verteidigen.
Für mich ist es heute genauso wichtig, dass wir uns unsere Heimat nicht streitig machen lassen von Menschen, die meinen mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ entscheiden zu können, wer hier leben darf und wer nicht und wer als deutsch gilt und wer nicht. Unser Vater hat uns mit auf den Weg gegeben, dass alle Menschen die gleichen Chancen verdienen ein glückliches Leben zu führen, egal wo sie geboren sind. Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie, ihrer Nationalität oder ihrer Religion zu diskriminieren war ihm fremd. Ein friedliches Zusammenleben aller Menschen auf dieser Erde, ohne Hass und Diskriminierung, war das Ideal, für das er sich sein Leben lang einsetzte. Diesem Ideal fühlen wir uns als seine Kinder ebenso verpflichtet.
In der heutigen Zeit, wo wieder Populisten und Nationalisten ihre Stimme erheben (und dies leider nicht nur in Deutschland) und Angst vor dem „Fremden“ schüren, ist es für mich besonders wichtig, sich verstärkt in den Chor derer, die ihre Stimme erheben gegen Fremdenhass und Ausgrenzung einzubringen. Es macht mir Angst, wenn immer öfter Stimmen gegen „die Muslime“, gegen „die Ausländer“ laut werden und das von Menschen, die von sich sagen würden, keine Rassisten oder Ausländerfeinde zu sein. Diese Angst darf aber nicht lähmen, für mich ist sie Anlass, mehr als bisher zu tun, mich einzubringen in die breite Bewegung für ein weltoffenes, tolerantes Deutschland.
Menschen, die keine Vorurteile gegenüber Juden hatten, in einer Zeit, als in Deutschland dazu viel Mut gehörte und in den anderen Ländern Europas zumindest Toleranz und Menschlichkeit, haben unserem Vater und einigen Tausend anderen Kindern das Leben gerettet. Den Mord an sechs Millionen Juden Europas und den bisher schrecklichsten Krieg in der Menschheitsgeschichte konnten sie nicht verhindern. Zum einen weil sie zu wenige waren und zum anderen, weil den Mächtigen Europas der politische Wille fehlte, diese Katastrophe zu verhindern. Wir als die Nachgeborenen haben die Verpflichtung, alles in unserer Macht stehende zu tun, damit eine solche Katastrophe sich nicht wiederholt. Und das heißt für mich, immer und überall den Mund aufzumachen, wenn Menschen auf Grund ihrer Religion, Nationalität oder warum auch immer diskriminiert werden. Soziale Probleme werden nicht gelöst, indem man „den Ausländern“ oder „den Flüchtlingen“ daran die Schuld gibt. Sich für eine sozial gerechte Welt einzusetzen und für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen ist ein Prozess der viel Kraft von vielen Menschen erfordert. Ich hoffe, wir schaffen das, damit auch unsere Enkel und Urenkel noch auf dieser Welt glücklich leben können.
Wer sich für das Leben meines Vaters und sein Vermächtnis interessiert, es gibt Aufzeichnungen von Zeitzeugeninterviews mit ihm, die man sich ansehen kann. Mein Bruder und ich sind auch gern bereit, über sein Leben Auskunft zu geben.