Meine Großmutter Gertrud wurde als älteste von zehn Kindern 1904 in Zinnowitz geboren. Ihre Mutter betrieb eine Pension, ihr Vater war selbständiger Ofensetzer. Demzufolge musste meine Großmutter aktiv bei der Aufzucht ihrer Geschwister helfen.
Trude heiratete im Jahr 1922 Hans Schmidt und ging mit ihm nach Berlin. Die Ehe zerbrach nach zwei Jahren. Großmutter war selbständige Näherin. Sie nähte Festtagsbekleidung für Juden und hat später oft davon erzählt, wie schwer ihr einzelne Kleidungsstücke fielen. Die Juden waren es auch, die ihr Zugang zu ihren Ärzten verschafften und immer mal für ihr Kind Obst und Gemüse mitgaben.
Ende 1936 waren viele Juden wegen des um sich greifenden Rassismus bereits in die USA oder nach Palästina ausgereist. Andere verarmten und hatten nicht mehr das Geld, Aufträge an sie zu vergeben. Auf diese Weise fielen ihr nach und nach die Auftraggeber weg. Daher war sie im November 1936 erwerbslos. Das galt als „asozial“. Deswegen wurde sie vom Arbeitsamt dienstverpflichtet zur Zwangsarbeit bei OSRAM, Oudenarder Straße, am Band.
Sie berichtete von Aktivitäten bis 1939. Zu dieser Zeit ging es weniger um aktive Parteiarbeit, als mehr um den Informationsaustausch. Wer ist nach dem Zuchthaus Spitzel? Wem kann man noch trauen? Wem kann man sich mit Selbsthilfeaktivitäten anvertrauen? Wohin wurden welche Genoss*innen deportiert? Wie kann Hilfe für die Familien aussehen?
Es gab persönliche Fragen, die sie nie beantwortete: Weshalb oder um wen weinte sie? Von wem waren die sechs Kinder, die sie verlor? Warum trug sie den Vater der zweiten Tochter nicht auf der Geburtsurkunde ein? Wie hieß der jüdische Arzt, der ihr half? Wohin war sie umgezogen?
Als Enkelin verstand ich erst viel später nach ihrem Tode, welchen Nachstellungen sie ausgesetzt war. Als Kind dachte ich, sie erzähle Horrormärchen. Dadurch lernte ich aber, dass im deutschen Faschismus gerade Arbeiter*innen mehrfachen Verfolgungsgründen ausgesetzt sein konnten.
Erst zwei Jahre nach ihrem Tod am 4.4.1995 lernte ich, dass es bei Hitler so genannte Asoziale gab. Zehn Jahre später begann ich mich mit diesem heterogenen Personenkreis und den „Kriminellen“ zu befassen. Meine Forschungen zu den Armen und den Ursachen ihrer Armut erstreckten sich bis ins Mittelalter. Ich entdeckte, woher und von wem der Begriff „Asoziale“ kam, dass Arme zu jeder Zeit das Arbeitshaus drohte, dass es bei der Verfolgung von Armen keine Stunde Null gab und ihnen stets unterstellt wurde, sie seien arbeitsscheu. Ich begann mich näher mit „wirtschaftlicher Not“ im deutschen Faschismus zu befassen und stellte fest, dass der Umgang mit armen Menschen besonders verbrecherisch war. Wurden sie verhaftet, kamen sie ins Arbeitshaus, wo Anträge auf Zwangssterilisierung für sie gestellt wurden. Dann kamen sie ins Zuchthaus und später ins KZ. Ihre Kinder wurden Fürsorgeheimen übergeben und erhielten dort keine Bildung, sondern wurden gezüchtigt. Im Krieg galten bei den Nazis sogar solidarische Handlungen, wie dem Zwangsarbeiter ein Brot über den Zaun zu werfen, als „asozial“. Die Betreffenden erhielten ein Jahr verschärftes Arbeitslager. Ich habe zu diesem Thema zwei Sammelbände publiziert, die europaweit vertrieben werden. Das kostete viel Kraft, Zeit und Geld, denn bis heute sind diese Personenkreise in der Gesellschaft verfemt.
Vor einem Jahr wechselte ich das Thema. Ich forsche zur Zwangsarbeit der als Juden verfolgten Berliner Bürger*innen. Ich mache die privaten Unternehmen ausfindig, in denen die Juden als Zwangsarbeiter*innen eingesetzt waren. Das ist zwar eine mühevolle, aber auch sehr lohnenswerte Aufgabe. Ich fand eine Fülle von Unternehmen, von denen bis heute Folgeunternehmen existieren. Aber keines dieser Unternehmen hat in den Zwangsarbeiterfonds für deren Entschädigung eingezahlt. Bei dieser Arbeit sah ich auch, wie sehr die tatsächlichen Einsätze dieser gelernten Facharbeiter von den bloßen Wünschen der Faschisten abwichen: Kinder ab 10 Jahren und alte Leute bis 74 Jahre wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt, Kolonnenarbeit existierte nicht überall. In einigen Unternehmen waren nur einzelne Jüdinnen bis zur Fabrikaktion eingesetzt. Es gibt noch weitere Abweichungen. Vom 17.10.−30.10.2018 führte ich eine erste, gut besuchte Ausstellung zum Thema „Zwangsarbeit der als Juden verfolgten Berliner Bürger*innen in privaten Unternehmen in Friedrichshain und Kreuzberg“ in der ehemaligen jüdischen Hutfabrik der Familie Gattel im Wedding durch. Das Besondere war: Die Ausstellung fand dort statt, wo sich abends im Speisesaal viele junge Migrant*innen aufhielten, die neugierig wissen wollten, was denn auf den Tafeln steht.
Ich bin Mitglied in BRAIN e.V., extramural e.V. und Gedenkort Fontanepromenade 15 e.V. Ich arbeite in der Berliner VVN-BdA e.V. mit. Ich werde jedes Jahr mindestens einmal von Jugendlichen, Schulklassen oder jungen Antifas eingeladen.