In den letzten Lebensjahren meiner Mutter, Rosemarie Reichwein, begleitete ich sie mehr und mehr zu Veranstaltungen und Interviews, zu denen sie als Zeitzeugin eingeladen wurde. Nach ihrem Tod 2002, kurz nach ihrem 98. Geburtstag, kamen vor allem die Bildungsstätten auf mich zu. Nun war ich für sie zur “Zeitzeugin“ geworden.
Mich an diesen Umstand zu gewöhnen, fiel mir zunächst etwas schwer, weil ich selbst nicht der Ansicht war, eine Zeitzeugin zu sein. Schließlich war ich erst drei Jahre alt, als mein Vater von den Nazis ermordet wurde.
Mit den Jahren gelang es mir aber, aus einer allmählich gewonnenen emotionalen Distanz zu meinem Vater, ihn auch als Menschen von öffentlichem Interesse zu sehen, der ein bedeutender − auch politischer − Reformpädagoge war, und früh zum entschlossenen Gegner der Nazis, folglich zum Widerstandskämpfer als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde.
Mit meinem „Übervater“ und großartigen Pädagogen als Vorbild scheute ich erst einmal davor zurück, den Beruf der Lehrerin zu ergreifen. Nachdem ich zuerst eine Fotografenlehre gemacht, acht Jahre als Fotografin gearbeitet und die Meisterprüfung abgelegt hatte, fasste ich schließlich den Entschluss, doch noch einen Beruf zu ergreifen, in dem ich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten konnte. Ich unterrichtete Kinder in der Grundschule und Studenten an der Berliner Hochschule der Künste auch in der Theorie und Praxis der Fotografie.
Von allen drei Ausbildungen profitierte ich besonders, als ich Ende der 1980er Jahre vorübergehend in dem Jugendbildungsprojekt „Stadt als Schule“ mitarbeitete, das Jugendliche förderte, die in der Schule gescheitert waren oder den Unterricht dort verweigerten − dem Leitspruch meines Vaters folgend: „Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht“. Es gibt 30 Schulen in Ost- und Westdeutschland, die den Namen meines Vaters Adolf Reichwein nach dem 2. Weltkrieg verliehen bekamen. Auch in Berlin-Neukölln wurde die damalige Sonderschule nach ihm benannt. Sie existiert heute noch als Förderschule, nachdem die Sonderschulen abgeschafft wurden und diese Schule auch geschlossen werden sollte. Da aber der Bedarf an Förderung lernbehinderter Kinder und Jugendlicher in Neukölln sogar noch weiter anstieg, setzte sich der SPD-regierte Bezirk dafür ein, dass die Schule weiter bestehen bleiben konnte.
Mit dieser Schule verbindet mich inzwischen eine enge Beziehung. Besonders mit dem Künstler und Medienpädagogen Matthias Schellenberger, der es versteht, mit den Kindern und Jugendlichen so zusammenzuarbeiten, dass sie sich auch für die Geschichte des Namensgebers ihrer Schule interessieren und sogar leidenschaftlich mit ihm beschäftigen, sogar für ihn engagieren.
Entsprechend eines weiteren Leitsatzes meines Vaters, „Was die Hand geschaffen hat, begreift der Kopf umso leichter“, erarbeiteten wir gemeinsam handwerklich und theoretisch eine konzentrierte überschaubare Wanderausstellung zu meinem Vater, unter Einbeziehung digitaler Medien, mit denen sie − statt sie lediglich zum Chatten und Spielen zu gebrauchen − selbst filmtechnisch kreativ werden und Videos gestalten, auch Interviews drehen konnten, u. a. mit mir, der „Zeitzeugin“ und Freundin.
Die weiteren Bildungseinrichtungen, die meine Mitarbeit wünschten, waren weitere Schulen, die den Namen meines Vaters tragen, wie zum Beispiel in Hessen die Integrierte Gesamtschule in Pohlheim, die Haupt- und Realschule sowie das Gymnasium in Heusenstamm und die Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Neu Anspach. Diese Schule kooperierte mit einem Lyceum in Schweidnitz/Swidnica, und die Schülerinnen und Schüler begegneten sich 2008 in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau/Krzyzowa, um sich mit dem Ziel deutsch-polnischer Freundschaft unter dem Motto „In der Entscheidung gibt es keine Umwege“ (Zitat Adolf Reichweins) während einer einwöchigen Projektwoche in Workshops über meinen Vater, den Widerstandskämpfer, den Kreisauer Kreis und den polnischen Oppositionellen und Mitbegründer der „Solidarnosc“ Jacek Kuroń auszutauschen − „Mit Kopf,Herz und Hand“. Dazu hatten sie Kurońs Sohn Maciej und mich als Zeitzeugen eingeladen, interviewten uns beide gemeinsam und wagten es, auch sehr persönliche Fragen an uns zu richten. Außerdem wurde das Leben meines Vaters im Rollenspiel dargestellt und eine Ausstellung über Reichwein und Kuroń zusammengestellt.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung, eine Einrichtung mit Bildungsauftrag, wird am 20. November 2018 aus Anlass des 120. Geburtstages Adolf Reichweins in Halle eine Podiums-Gesprächsrunde anbieten, an der Andreas Schmidt, Rüdiger Fikentscher und ich beteiligt sein werden. Die großartigste Feier zum 120. Geburtstag meines Vaters hat in diesem Jahr mal keine Bildungseinrichtung, sondern der besonders engagierte Bürgermeister der hessischen Kleinstadt Rosbach bei Friedberg, in der Mein Vater seit 1904 seine Kindheit und Jugend verbrachte, in der Adolf-Reichwein-Halle im Ortskern veranstaltet.