Vor drei Jahren habe ich meine Unterschrift unter den Antrag zur Anbringung einer Gedenktafel für die während des Stalin-Terrors verfolgten und ermordeten deutschen Antifaschisten und Kommunisten gesetzt. Auf den Tag der öffentlichen Ehrung für meine Eltern, ihre Freunde und Genossen habe ich nicht vergeblich gehofft. Die heutige Einweihung dieser Gedenktafel erfüllt mich mit tiefer Genugtuung.
Die Geschichte meiner Eltern und damit auch meine eigene sind verbunden mit diesem Haus. Seit frühester Jugend waren meine Mutter und mein Vater aktiv in der Arbeiterbewegung. Später waren sie in unterschiedlichen Funktionen für die KPD tätig. Als dieser Ort noch Bülowplatz hieß, gehörte mein Vater zu den Genossen, die für die Sicherheit der in diesem Haus arbeitenden Führungskräfte der Partei sorgten. Das Karl-Liebknecht-Haus war nicht nur die Wirkungsstätte der Parteiführung, es war das Haus der Parteimitglieder, das Zentrum und das Herz der Bewegung. Aus diesem Haus bekamen meine Eltern 1931 den Auftrag, mit meinen zwei Brüdern und mir nach Moskau zu übersiedeln. Dort angekommen, wollten meine Eltern einen Beitrag zum Aufbau des ersten Arbeiter- und Bauern-Staates leisten. Wir lernten die russische Sprache, schlossen Freundschaften und fühlten uns dem Land und den Menschen rasch zugehörig. Im verhängnisvollen Jahr 1937, ich war 16 Jahre alt, wurden meine Eltern und mein ältester Bruder verhaftet. Mit der Rekrutierung meines jüngeren Bruders in die Arbeitsarmee verlor ich den letzten familiären Kontakt. 18 lange Jahre, die ich selbst unter misslichen Bedingungen verbrachte, hatte ich keine Informationen von meinen Angehörigen. Das Jahr 1955 brachte uns, die Überlebenden der Familie, wieder zusammen. Nach 25 Jahren durfte ich endlich in die Heimat, nach Berlin, zurückkehren. Ich nahm an, dass wir – nach den schrecklichen Ereignissen, die wir in der Sowjetunion unschuldig erleiden mussten − Worte der Anteilnahme und des Respekts hören werden. Die Realität war eine andere.
Über die Verbrechen Stalins und die Opfer wurde nicht öffentlich gesprochen. Das Schweigen war vielschichtig und unterschiedlich motiviert. In den Erinnerungen der Familien wirkten die schrecklichen Ereignisse und die Ungewissheit über das tatsächliche Schicksal der Angehörigen über die Jahrzehnte fort und wurden eine schwere Bürde.
Nach 1989 begannen wir Nachkommen, nach dem Schicksal unserer Angehörigen zu forschen. Es war ein schmerzvoller Prozess: Wir erfuhren von den ungeheuerlichen konstruierten Anschuldigungen, von erzwungenen Geständnissen, von Massenerschießungen und Massengräbern.
Unser Arbeitskreis sieht es als seine Verpflichtung an, dafür Sorge zu tragen, dass die Schicksale der unschuldigen Opfer nicht vergessen werden, dass ihnen ihre Namen zurückgegeben werden und ihnen ein würdiges öffentliches Gedenken gewährt wird.
So viele Jahrzehnte sind vergangen. Der Schmerz über den Verlust, über das sinnlose und unmenschliche Leid will nicht vergehen. Ich wünschte, mein Vater wäre heute hier. Er, der die schrecklichen Jahre im Lager und in der Verbannung für immer tief in seinem Inneren begrub und der seiner Trauer um Frau und Sohn niemals öffentlich Ausdruck verleihen durfte. Ich wünschte, die Freundin meiner Berliner Kinderzeit, Margot Kippenberger, stände heute unter uns. Sie, die so viele Jahre vergeblich um die öffentliche Rehabilitierung ihres Vaters Hans Kippenberger kämpfte, enttäuscht und verbittert die DDR verließ. Ich denke an meine Arbeitskollegin Ilse Kohrt, der man die Rehabilitierung ihres Vaters Heinrich Meyer nur mündlich und im Geheimen gewillt war mitzuteilen. Ich denke an Karl Fehler, unserem leider schon verstorbenen Mitglied des Arbeitskreises, den das schwere Schicksal seiner Mutter im sibirischen Arbeitslager ein Leben lang begleitete.
Nun endlich bekommen die deutschen Antifaschisten und Kommunisten, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden, an diesem für jene Generation bedeutsamen Ort die ihnen so lange verwehrte öffentliche Ehrung.
Diese Rede hielt Ursula Schwartz (1921- 2018) anlässlich der Einweihung der Gedenktafel am 17. Dezember 2013 am Karl-Liebknecht-Haus zur Erinnerung an die im sowjetischen Exil verfolgten und ermordeten deutschen Antifaschisten. Bei dem von ihr erwähnten Arbeitskreis handelt es sich um den seit 2008 bestehenden „Arbeitskreis Sowjetexil“, dessen Gründungsmitglied Ursula Schwartz war. Am gleichen Abend wurde im Karl-Liebknecht-Haus die Ausstellung „Ich kam als Gast in euer Land gereist …“. Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933–1956 eröffnet. Die Wanderausstellung in deutscher und russischer Sprache wurde bisher in Moskau, St. Peterburg, Paris, im Brüsseler Europaparlament und in neun deutschen Bundesländern gezeigt. Der gleichnamige Bildband (Hg. Wladislaw Hedeler und Inge Münz-Koenen) erschien 2013 im Berliner Lukas-Verlag.
Der Arbeitskreis besteht überwiegend aus Nachkommen der „zweiten Generation“, geboren in der Sowjetunion zwischen 1938 und 1955. Von der „dritten Generation“ sind derzeit mehre Nachkommen mit Forschungen und Publikationen zu ihren Großeltern beschäftigt. Anja Schindler (geboren 1949 in Kasachstan), die Tochter von Ursula Schwartz hat 2016 eine generationenübergreifende Familienbiographie unter dem Titel “… Verhaftet und erschossen“ − Eine Familie zwischen Stalins Terror und Hitlers Krieg“ im Dietz-Verlag veröffentlicht.