Andrej Hermlin (*1965) – In Zeiten wie diesen

Ich gehöre an diesem grauen Herbstabend 1990 erst seit wenigen Monaten einer Partei an, die sich zu jener Zeit in einer permanenten Metamorphose zu befinden scheint. Innerhalb eines Jahres sind ihr das Programm, die Führung und Hunderttausende ihrer Mitglieder abhanden gekommen. Mehrfach hat sie ihren Namen geändert.

An diesem Abend nun stehe ich − nur wenige Meter vom Karl-Liebknecht-Haus entfernt − neben dem stellvertretenden Berliner Vorsitzenden meiner Partei. Wir diskutieren aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, die Lage im Nahen Osten.

Thomas F., ein ehemaliger Offizier der DDR-Bereitschaftspolizei, meint – fast beiläufig − das Schlimmste, was den Juden in ihrer zweitausendjährigen Geschichte widerfahren sei, wäre die Gründung des Staates Israel gewesen. Er sagt nicht „die Shoah“, er sagt „Israel“!

Ich erinnere mich sogleich an eine Ausgabe des „Schwarzen Kanals“ aus dem Frühjahr 1989, die ich damals zufällig gesehen hatte. Karl-Eduard von Schnitzler erklärte mit festem Blick in die Kamera, wir Deutschen seien auf Grund unserer Vergangenheit zu schärfster Kritik an Israel geradezu verpflichtet. Das Vorgehen der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten unterscheide sich vielleicht „quantitativ“ von den Handlungen der SS in Auschwitz, sei „qualitativ“ aber ein und dasselbe.

Im Sommer 2018 verabschiedete der Vorstand der inzwischen in „Die Linke“ umgetauften Partei einen Beschluss, der die Angriffe der Hamas auf die israelische Staatsgrenze zu „mehrheitlich friedlichen Massenprotesten“ umdeutete und Israel für eine Besatzung von Gaza zu verurteilen suchte, die es seit Jahren gar nicht mehr gibt.

Kein Wort von den wehenden Hakenkreuzfahnen in Gaza und den an Ballons aufgehängten Brandbomben. Der Parteivorstand verschwieg geflissentlich auch den Aufruf der Hamas, während des „Marsches der Rückkehr“ Juden zu entführen und zu verbrennen.

Die einseitige Parteinahme gegen Israel hat in der deutschen Linken eine unselige Tradition. Sie beruht – zumindest in Teilen − auf der abstrusen Annahme, die palästinensischen Araber seien gewissermaßen mit der Arbeiterklasse gleichzusetzen, während die Juden nichts anderes seien als deren kapitalistische Ausbeuter.

Man missverstehe mich nicht: Antisemitismus ist natürlich kein Privileg der deutschen Linken. Er ist dort nur besonders enttäuschend und er ist zugleich ein Widerspruch in sich, denn: Links ist niemals antisemitisch und Antisemiten sind niemals links!

Der „linke“ Antisemitismus, das Paradox also, ist dabei von einer ausgesuchten Niedertracht. Dieser Antisemitismus ist feige, er bestreitet gewissermaßen seine eigene Existenz, indem er sich hinter verharmlosenden Floskeln verbirgt und behauptet, sich „lediglich“ gegen den Zionismus zu wenden.

Kein anderer Konflikt auf unserem Globus beschäftigt die Deutschen − ob nun links oder nicht – stärker und ausdauernder als jener zwischen Arabern und Juden. Tausende Tote im Kongo, zehntausende in Syrien − das deutsche Herz bleibt kalt. Ein erschossener Palästinenser im Gazastreifen und die deutsche Seele kommt in Wallung, das Herz schlägt schneller.

Es lebte sich für manche leichter in Deutschland, wenn sich beweisen ließe, dass die Juden nicht besser sind als der eigene Vater oder Großvater. So werden die Opfer zu Tätern und die Täter von einst erscheinen in einem milderen Licht.

Inzwischen ist es hierzulande wieder modern, die Theorie von einer jüdischen Weltverschwörung zu bemühen. Da ist die Rede von „gewissen zionistischen Kreisen“ oder der „Ostküstenelite“. Selbst die längst vergessen geglaubten zaristischen „Protokolle der Weisen von Zion“ tauchen wieder auf und in Dresden wird der Kanzlerin von besorgten Bürgern „Judensau“ entgegen geschrieen.

Beobachter wiegeln ab, das alles solle man nicht überbewerten. Dabei ist es völlig unmöglich, eine korrekte Therapie auf Grundlage eines falschen Befundes anzuordnen. Ohne eine schonungslose Bestandsaufnahme kann man nicht auf Heilung hoffen.

Immer wieder ist zu lesen, nur ein gewisser, nicht allzu großer Prozentsatz der Deutschen neige zu einem latenten Antisemitismus. Wirklich? Kürzlich erst hörte ich, dass in einer repräsentativen Umfrage zu antisemitischen Stereotypen lediglich elf Prozent der Befragten keinem der aufgeführten Stereotype zugestimmt hätten. Was aber könnte bei einem Menschen dazu führen, einem antisemitischen Stereotyp beizupflichten, außer dass der Betreffende eben doch latent antisemitisch ist? Wenn allerdings eine Mehrheit der Deutschen eine gewisse Abneigung oder gar Feindschaft gegenüber den Juden empfindet − ganz unabhängig davon ob Frau oder Mann, ob gebildet oder weniger gebildet, ob politisch eher links oder eher rechts − wenn es also eine Mehrheit ist, was bedeutet dann diese Erkenntnis für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, wir machen uns etwas vor. Noch bewahrt uns der verbliebene Wohlstand vor einem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung. Was aber, wenn sich das änderte? Was, wenn wir in eine Krise der Wirtschaft gerieten? Was, wenn alle nötigen Zutaten im richtigen Verhältnis zueinander den Weg in das deutsche Reagenzglas fänden?

Habe ich noch eine Zukunft in Deutschland?

Andrej Hermlin ist der Sohn des Schriftstellers und kommunistischen Widerstandskämpfers Stephan Hermlin, der 1936 mit weiteren Familienangehörigen ins Exil nach Palästina ging. Von dort reiste er nach Frankreich und entkam der Deportation 1943 nur durch Flucht in die Schweiz. 1945 kehrte Stephan Hermlin nach Deutschland zurück. Andrejs Großvater, der jüdische Unternehmer und Kunstsammler David Leder, blieb in Berlin und wurde in der Pogromnacht von 1938 verhaftet. David Leder wurde in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung emigrierte er im Sommer 1939 mit seiner Frau Lola nach England.