Kamil Majchrzak (*1976) – Nachkommen und erinnerungspolitische Ethik

Das erste, woran ich mich aus meiner Kindheit an meinen Großvater Stanisław Majchrzak erinnere, ist, dass wir Auschwitz spielten. Aus alten Streichholzschachteln bauten wir Krematorien. Als der Teppich Feuer fing, schimpften unsere Eltern. Keiner erklärte uns damals vier- oder sechsjährigen das Wort Auschwitz. Das Schwiegen über die Stationen des aufgeschobenen Sterbens und Überlebens meines Großvaters in Zuchthäusern und Lagern wie Neusustrum V, Auschwitz-Birkenau, Mittelbau-Dora oder Bergen-Belsen war dennoch unüberhörbar. Ich war erst sechs Jahre alt, als mein Großvater an den Spätfolgen der Verfolgung 1983 starb. Wir konnten als Erwachsene nie darüber sprechen.

Fünfzehn Jahre später versteckte ich mich hinter Brettern auf einer Baustelle in Frankfurt (Oder). Zwei Neonazis vom „Oder-Sturm“ lauerten mir auf dem Nachhauseweg zum Studentenwohnheim auf. Sie hielten mir eine Pistole an die Schläfe. Ich erinnere mich an ihr „Sieg Heil“. Einige Monate vorher wartet sie auf mich am Gedenkstein für die zerstörte Synagoge. Einer schlug von hinten mit einem Baseballschläger zu. Ich erinnere mich an das Gefühl des zwischen den Fingern rinnenden Blutes und die Angst, den Kopf zu berühren, um dort vielleicht das Hirn zu berühren.

Als meine Tochter Emilia zur Welt kam, beschloss ich nach Buchenwald zu fahren. Ich wollte meinen Großvater verstehen oder besser gesagt kennenlernen. Seine Einsamkeit und Isolation. Ich irrte in Weimar umher. Ich wollte ihm ein Zeichen geben, dass ich für ihn da bin, ihm zuhören möchte. Er schwieg.

Anders als für erinnerungspolitische Expert*innen ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für viele Nachkommen eine sehr persönliche und traumatische. Bei unsere Suche wurden wir weitgehend allein gelassen, teilweise bewusst isoliert. Obwohl viele Expert*innen die Gefahren beschwören, die eintreten, wenn die letzten Überlebenden sterben, habe ich oft das Gefühl, dass manche es kaum erwarten können, dass diese tatsächlich verstummen.

Die Nachkommen werden in der Bildungsarbeit als Partner*innen kaum berücksichtigt. Die Erfahrungen der Nachkommen werden oft nur um den Preis ihrer Pathologisierung anerkannt. Wir sind Objekte einer Politik, nicht jedoch deren eigenständige Subjekte. Nichts anderes ist unseren Großeltern widerfahren. Zunächst hörte ihnen keiner zu. Also gab es sie gar nicht. Irgendwann war es zu spät für Anerkennung, Entschädigung, Rente, Rehabilitation und Respekt.

Die individuelle Pathologisierung erlaubt damals und heute, von den konkreten Täter*innen zu abstrahieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervorbrachten, zu vernebeln. Dies verhindert auch eine Auseinandersetzung mit ähnlichen Prozessen in der Gegenwart. Während die Vergangenheit aus dem gesellschaftlichen Kontext losgelöst wird, verwandelt sich auch die Gegenwart zu etwas ewig transzendentem, von Vergangenheit losgelöstem. Dabei macht gerade das Sichtbarmachen der Realität gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und die Verstrickung in diese Gewalt – auch als Opfer in einem KZ oder während der Besatzung – eine kritische Perspektive auf die Gegenwart und die heute herrschenden Machtverhältnisse möglich. Sie offenbart unsere Handlungsmöglichkeiten und Verantwortung für den anderen Menschen.

Anders als viele erinnerungspolitische Expert*innen, wollen wir Nachkommen weder Repräsentieren, noch als neue Opfern definiert werden.

Das Fortwirken der Vernichtung und der traumatischen Erfahrungen beschränkt sich nicht nur auf die Überlebenden des Nationalsozialismus und der Shoah. Sie sind erfahrbar für uns als nachkommende Generationen. Die Auseinandersetzung damit wird zu einer persönlichen Frage der Ethik, wodurch wir Nachkommen ein Gegenstück erarbeiten können zu einer Form der Erinnerung, die sich lediglich auf historische Zeitangaben und Zahlen der Ermordeten bezieht. Allein auf Grundlage historischer Zeitangaben kann eine kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Realität der Gegenwart nämlich nicht stattfinden.

Der hilflose Versuch, für und im Namen der Ermordeten zu sprechen, verkennt, dass Geschichtswissenschaft an sich gar keine Pflicht zur Erinnerung kennt. Gesellschaftliche und individuelle Ethik dagegen schon. Wir, die Nachkommen, könnten hier durch Erfahrungen bei der Aufarbeitung traumatischer Ereignisse unserer eigenen Geschichte einen Beitrag leisten, um in Zukunft die Fortsetzung der Erinnerungsarbeit ohne unsere Großeltern und Eltern fortzusetzen.

Die damaligen Gewaltverhältnisse wirken vielfach nach wie vor real fort. Sie wirken aber auch unbewusst durch transgenerationale Trauma-Weitergabe fort und machen die Vergangenheit zur immer wiederkehrenden Beschäftigung in der Gegenwart. Ob wir, die Nachkommen, das wollen oder nicht, irgendwann bricht es heraus, auch wenn es eine Generation überspringen kann. Und beides ist verschränkt mit herrschenden gesellschaftlichen Diskursen, Machtverhältnissen, aber auch der Rolle der Expert*innen, die sie bewusst oder unbewusst zur Legitimierung und Immunisierung ihrer Deutungen in der Erinnerungspolitik einnehmen.

Es liegt an uns, uns unserer eigenen Verantwortung in der Gegenwart und unserer Bedeutung bewusst zu werden. Wir müssen eine eigenständige Stimme erheben, um uns diesen Herausforderungen zu stellen. Jede Generation der Nachkommen muss ihren eigenen Weg finden, damit umzugehen. Keiner kann sie jedoch dazu zwingen.

Wir dürfen jedoch weder unser heutiges Leben aufgeben aufgrund der Last von Auschwitz, noch nur um den Preis des Vergessens weiterleben.

Kamil Majchrzak ist Mitglied des Vorstandes des Internationalen Komitees Buchenwald Dora (IKBD) und der Berliner VVN-BdA. Für sein Engagement für die Ghetto-Renten wurde er 2015 von Überlebenden mit der Ehren-Medaille „Aufstand im Warschauer Ghetto“ ausgezeichnet.

Antonio Leonhardt (*1994) – Wer nicht feiert, hat verloren – Der 8. Mai als Feiertag

Ich schreibe meinen Beitrag als Nachkomme der Familie Fichtmann, einer Familie Berliner Juden und Kommunisten. Einer großen Familie – neben meinen Ururgroßeltern Clara und Leo Fichtmann bestand die Familie aus sechs Kindern sowie den vierzehn Enkeln. Vergilbte Bilder zeugen von einem vollen Haus bei gemeinsamen Feiern im Kreis von Familie und Freunden. Daneben war da aber immer auch die Politik. Wie die Eltern waren auch die Kinder „politisch“. Auf die eine oder andere Art waren sie Kommunisten, waren an der Arbeit in Partei, Jugendverband oder Arbeitersportverein beteiligt, gingen auf Demos, verteilten Flugblätter und gaben sogar Zeitungen heraus. Politisches Engagement, das die Generationen bis zum heutigen Tag überdauerte. Als assimilierte Juden und aktive Kommunisten den Nazis doppelt verhasst, trafen von Beginn an Terror und Verfolgung die Familie hart. Meine Ururgroßeltern wurden von den Nazis umgebracht: Clara Fichtmann wurde in Auschwitz vergast. Leo Fichtmann wurde in Sachsenhausen erschossen. Von ihren Kindern wurden weitere zwei in Konzentrationslagern ermordet, ein Sohn nahm sich das Leben, um diesem Schicksal zu entgehen. Meine Uroma und Oma überlebten nur, weil sie durch einen sogenannten „arischen“ Ehemann und Vater, meinen Uropa, geschützt waren. Keiner kann allerdings heute sagen, wie lange der Rassenwahn der Nazis noch vor „deutsch versippten“ Jüdinnen und Juden und ihren sogenannten „Mischlingskindern“ halt gemacht hätte.

Jeder 8. Mai ist daher für mich auch ein ganz persönlicher Tag der Befreiung, der meine Familie, die Kinder und Enkelkinder von Clara und Leo Fichtmann, vor weiterer Verfolgung und Leid bewahrte und aus einem 12 Jahre dauernden Martyrium erlöste. Ohne den 8. Mai 1945 gäbe es keinen Autor, der diesen Beitrag schreiben könnte.

Meine Überlegungen verstehe ich daher als Intervention in einer ansteigenden aktuellen landespolitischen Diskussion. Seit einiger Zeit befindet sich das Land Berlin auf der öffentlichen Suche nach einem festen zehnten Feiertag. Vor dem Hintergrund meiner Familienbiographie setze ich ich mich in der Debatte für den 8. Mai ein, den Tag der Befreiung. Als vielfacher Wendepunkt deutscher Geschichte kreuzen sich hier Entwicklungslinien und kristallisieren sich geschichts- und gesellschaftspolitische Debatten. Schon das Wort „Befreiung“ ist dabei keine Selbstverständlichkeit und immer wieder auch politischen Anfechtungen ausgesetzt. Schon kurz nach 1945 war die Erinnerung der Deutschen geprägt durch die unterschiedliche Einstellung zum besiegten Hitlerfaschismus sowie der neuen Nachkriegsordnung und brachen sich Befreiungsfreude, Existenzangst, Demokratiefeindschaft, innerer Rückzug, Anpassung und Pragmatismus oder Trauer Bahn.

Vorläufiger Endpunkt einer in den beiden deutschen Staaten unterschiedlich verlaufenden Debatte stellt die Rede Richard von Weizäckers 1985 dar. In Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks, den der Autor auch persönlich in seiner Auseinandersetzung mit der AfD als Lichtenberger Bezirkspolitiker zu spüren bekommt, drohen wir indes dahinter zurückzufallen.

Bei der zunehmenden Betonung der deutschen Opfer droht in Vergessenheit zu geraten, dass die anderen Völker zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges wurden, „bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden“ (H. A. Winkler).

Weiterhin kommt es bei der Wahrnehmung des faschistischen Krieges zu einer Akzentverschiebung. Es findet eine Umdeutung in einen reinen Vernichtungskrieg gegen die europäischen Juden statt, wobei die Zusammenhänge zum deutschen Militarismus und territorialen Expansionsdrang gerade auch vor dem Hintergrund einer angestrebten Neuorientierung des außenpolitischen Rollenverständnisses Deutschlands verwischt werden.

Zudem forcieren die aktuellen militärstrategischen Spannungen der ehemaligen Alliierten eine latente Überbewertung der Westfront gegenüber der Ostfront. Mit Blick auf die Opferzahlen auf sowjetischer Seite stellt dies eine eklatante, tagespolitisch motivierte Relativierung der Leistungen des „Hauptbefreiers“ dar.

Gegen diese Tendenzen stellt die Erhebung des 8. Mais zum Feiertag eine wertvolle geschichtspolitische Intervention dar. Zu fördern ist ein lebendiges Erinnern, das sind Festumzüge, Konzerte, Einladungen an die Völker der Befreier und die Entwicklung einer Vision von einem „europäischen 8. Mai“.

Dieser könnte dem „Abgleich der nationalen Gedächtnisse“ (Dan Diner) dienen, die Opfer und Täterrollen reflektieren und aus der gemeinsamen europäischen Erfahrung eines furchtbaren Krieges Einendes für Gegenwart und Zukunft schöpfen. Hierbei kann an die Berliner VVN-BdA angeknüpft werden, die den Tag des Sieges am 9. Mai seit 20 Jahren im Umfeld des sowjetischen Ehrenmals Treptow gemeinsam mit tausenden Besuchern unterschiedlicher Herkunft und Alters begeht.

Sonja Kosche – Antiziganismus (noch immer) ganz normal?

Meine Vorfahren kamen von überall her, waren auch Roma, Sinti und Schausteller. Wenn ich das heute erzähle, sehen Menschen mich anders an, ist es wie ein “Outing”.

Ich wurde hier in erster Generation geboren, mein Vater im Balkan, meine Oma kam aus Rumänien. Sie sagte „Zigeuner“. Ich nicht mehr. Sie sagte es liebevoll und kannte es nicht anders, andere sagten es, wenn ich schmutzig nach Hause kam oder gar nicht.

Wenn in den 1970er Jahren so Benannte kamen, in Wohnwagen, warnten sich die Nachbarn und ließen die Jalousien herunter, als seien die Menschen gefährlich.

Seit dem Holocaust sollte es niemand mehr sagen, der nicht von dieser Entwertung betroffen ist. Es kommt von griechisch athinganoi und bedeutete „unberührbar“ zu sein, war immer eine abwertende Fremdbezeichnung und stand schon im 13. Jhd. für „asoziale Elemente“, es transportiert automatisch abwertende Bilder mit.

Die Herkunft nach Generationen ist heute überall Thema. Wer nicht in 3. Generation hier geboren wurde, wird für nicht wirklich deutsch erklärt.

Im Bundestag sitzt eine rassistische Partei deren Mitglieder dafür einstehen, und dass man “Zigeuner” sagen darf. So entwertete Menschen sollten als “unwertes Leben” ausgerottet werden, Hunderttausende wurden aus rassistischen Gründen systematisch ermordet, was erst 1982 so anerkannt wurde.

Meine Großmütter erzählten mir früher viel vom Krieg, eine wuchs in einer Schaustellerfamilie auf. Wegen angeblich “zigeunerischer Lebensweise“ wären sie verfolgt worden, so verbargen sie es bis zum Schluss nach außen. Ich hörte viel von Hunger und dass mein Vater nicht in die Schule durfte, weil er keine Schuhe hatte. Wenn ich heute Menschen betteln sehe, gegen die gehetzt wird, erinnere ich mich und versuche ihnen, denen keiner zuhört, eine Stimme zu geben. Rassismus schließt viele Roma und andere als „Z“ diffamierte systematisch aus der Gesellschaft vieler Länder Europas aus.

Stereotypsierend abwertende “Zigeunerbilder” werden vielfach transportiert. Roma werden als “Armutsflüchtlinge”, “Sozialbetrüger”, “fahrendes Volk” oder “Rotationseuropäer” diffamiert. Ich beschäftige mich mit Medienmonitoring und las, “Zigeuner” hätten ganze Dörfer verflucht, das löse immer wieder Großbrände aus, sie klauten Wäsche und Kinder; das wird heute leider wie vor 100 Jahren verbreitet.

In einem Kinderfilm der in Schulen gezeigt wird, entführen Roma ein Kind und kommen ausschließlich negativ und entwürdigend vor, wie in unzähligen Presseberichten und Dokumentationen. Hass schürende Kommentare werden stehengelassen. Man müsse uns besser ausrotten und Hitlers Werk vollenden, las ich und zitterte, frage mich ob es keine gleichen Menschenrechte für Roma gibt.

Ich halte dagegen und dokumentiere den Hass für verschiedene NGOs, mache immer wieder darauf aufmerksam. Im Internet habe ich eine Gruppe gegründet und mich in einem Bündnis vernetzt. Wir mischen uns ein, stehen aber oft alleine da. Viele erkennen Antiziganismus leider nicht. Mit Faschisten diskutiere ich nicht.

Volksverhetzung und Holocaustrelativierung wird oft nicht als solche anerkannt. Ich zeigte z. B. Herrn Tillschneider von der AFD an, der nach “einem Zigeunerproblem” hier fragte. Das wäre freie Meinungsäußerung erwiderte das Gericht.

Häufig wird von nicht Betroffenen nur expliziter Rassismus erkannt. Roma Nomadentum zu unterstellen, finden viele normal. Im Dritten Reich führte man das direkt auf die „Rasse“ zurück, das kann man auch heute noch überall lesen.

Es setzt sich immer mehr Menschenfeindlichkeit durch. Europa rückt nach rechts. Wirklich sichere Herkunftsländer gibt es für Roma nicht und ich versuche politisch etwas zu verändern. In Plauen brannten drei Häuser mit Roma, die Nachbarn halfen nicht, sie behinderten Lösch- und Rettungsarbeiten, riefen “Sieg Heil” und “Lasst sie brennen”. Ein Aufschrei blieb aus. Mitten in Berlin wurde auf ein Roma-Mädchen geschossen, ein Bericht darüber wurde mit überfüllten Mülltonnen bebildert und geschrieben, dass die Roma zu laut wären und zu viel Müll machten. In Italien wurde auf ein Baby geschossen, auf zwei Kinder, die zu laut gewesen wären. In der Ukraine wurde Menschen die Bleibe zerstört, Roma ermordet. In Schweden wurde ein Rom von Jugendlichen vor laufender Kamera misshandelt und ermordet. Auf all diese Vorfälle kamen kaum Reaktionen. Die Stille erschreckt mich.

Die Studie Neue Mitte zeigte, dass knapp 60 % der Menschen hier offen Sinti und Roma ablehnen, für kriminell halten und nicht hier haben wollen, die Dunkelziffer ist deutlich höher. Egal wo wir kommentieren, haben wir schnell viele gegen uns.

Wer sich selbst „Z“ nennt, dem wird applaudiert und es wird gern in Zitate eingefügt. “Z” hat sich Europa selbst erschaffen und will nicht von ihnen lassen. Die alten Märchen halten sich hartnäckig und sind ein Konstrukt der Mehrheit, sie lassen die Privilegierten sich besser fühlen. Die Deutungshoheit darüber, was rassistisch ist, beanspruchen diese stets für sich und allein darüber bestimmen zu dürfen. Täter-Opfer-Umkehr wird betrieben. Ich rufe auf: sagt nein.

Jan Kordt (*1955) – Gedenken und Erinnerung lebendig halten

Im Sommer 1966 begleitete ich meinen Vater Erich Kordt für ein paar Tage nach Berlin. Wir flogen von Düsseldorf nach Tempelhof, für mich war es mein erster Besuch in Berlin und auch mein erster Flug. Erich hielt einen Vortrag im Rahmen eines internationalen Seminars in der Borsigvilla in Tegel. Ich war knapp 11 Jahre alt, verstand von dem Ganzen kaum etwas, bewunderte aber die SimultandolmetscherInnen, in deren Kabine ich mich aufhalten durfte. Auf dem Rückweg zu Charlotte Reimann, einer engen Freundin meines Vaters, bei der wir wohnten, fuhr Erich mit mir nach Plötzensee und zeigte mir den Hinrichtungsschuppen. Die Erschütterung, die dieser Ort bei meinem Vater auslöste, traf mich damals sehr. Ich versuchte ihm nah zu sein und ihn durch mein Dasein zu bestärken und zu trösten. Diesen ersten Besuch der Gedenkstätte werde ich nicht vergessen. Er steht am Anfang meiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Überzeugung, dass wir in unserem Land für Meinungsfreiheit, Demokratie und Gerechtigkeit streiten und jeglicher Form von Nationalismus, Hass und Rassismus entgegentreten müssen.

Mein Onkel Theo Kordt war 1922 ins auswärtige Amt eingetreten, mein Vater Erich 1928. Nach Stationen in Genf, Bern und London wurde mein Vater 1938 „Chef des Ministerbüros“ des zum Außenminister ernannten Joachim von Ribbentrop. Theo Kordt war 1938 an der Deutschen Botschaft in London tätig. Erich und Theo beteiligten sich im Sommer 1938 an den Versuchen deutscher Oppositioneller, die britische Regierung zu bewegen, in der von Hitlerdeutschland inszenierten Sudetenkrise nicht nachzugeben, sondern zu erklären, dass die völkerrechtswidrige Annektion der Sudetengebiete zwangsläufig zum Krieg führe. Hitlers Ansehen sollte in der deutschen Bevölkerung und beim Militär durch die heraufziehende Kriegsgefahr geschwächt und damit ein Umsturz ermöglicht werden. Der Plan misslang, das Münchner Abkommen wurde geschlossen. In der trügerischen Hoffnung, den Frieden dauerhaft zu sichern wurde die Tschechoslowakei preisgegeben.

Als nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 zunächst keine Kriegshandlungen Englands und Frankreichs folgten, ergab sich für die Gruppe um Hans Oster, in der Militärs und Zivilisten zusammenarbeiteten und der auch mein Vater angehörte, im November 1939 eine weitere Möglichkeit, das Hitlerregime zu stürzen. Ein Bombenattentat wurde vorbereitet, das am 11.11.1939 durch meinen Vater ausgeführt werden sollte. Das Vorhaben wurde nach dem Attentat des mutigen Georg Elser am 9.11.1939, das Oster und seine Gruppe völlig überraschte und das sie irrtümlich für eine Inszenierung der Gestapo hielten, abgebrochen. Das Scheitern der Versuche und die folgenden riesigen Erfolge der Wehrmacht im Sommer 1940 haben viele Oppositionelle und auch meinen Vater schwer belastet. Der fundamentale Gegensatz der Überzeugungen, die Kenntnis der stattfindenden und der geplanten Verbrechen im Krieg, gegen die jüdische Bevölkerung, gegen Minderheiten und Andersdenkende und gleichzeitig die Erkenntnis, dass aufgrund der militärischen Erfolge die Chance für einen erfolgreichen Umsturz für lange Zeit verpasst war, machte die Nähe zu Ribbentrop für meinen Vater unerträglich und gefährlich. Er hat dennoch zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt, dass der Faschismus am Ende besiegt werden würde. Er wäre wohl nicht im April 1941 nach Japan gegangen, wenn es für ihn eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Nach längerem Zögern hat er die Versetzung angenommen und nach der Entlassung des Botschafters Eugen Ott im Zuge der Affaire um Richard Sorge 1943 auch die Versetzung nach Nanking und Shanghai. Anfang 1946 kehrte mein Vater über die USA nach Deutschland zurück.

Dass mein Vater sich bereits von 1933 an keinerlei Illusionen über die verbrecherische Natur der Nazidiktatur machte und zu ihren entschlossenen Gegnern gehörte, ist vielfach bestritten worden. Das focht ihn wenig an. Es war ihm klar, dass der Vorwurf des Opportunismus erhoben und die Darstellung seiner eigenen Aktivitäten in Opposition und Widerstand in Zweifel gezogen würden. Posthum sind weitere Anschuldigungen hinzugekommen: So sollen Erich und Theo im Wihelmstraßenprozeß zugunsten von Ernst von Weizsäcker gelogen haben, zudem seien die Gebrüder Kordt nach dem Krieg maßgeblich an der Legendenbildung des auswärtigen Amts als „Hort des Widerstand“ beteiligt gewesen.

Diese Vorwürfe, die ich für falsch halte und die für mich und die Nachfahren von Erich und Theo schmerzhaft sind, stellen für mich auch ein persönliches Motiv dar, mich an Initiativen, Seminaren und Veranstaltungen wie dieser zu beteiligen. Ich finde es gut, Menschen aus anderen Familien kennenzulernen, deren Vorfahren aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen heraus den Nationalsozialismus bekämpft haben. Dabei gilt es, auch neue Formen zu finden, das Gedenken lebendig zu halten, jetzt wo die Nachfolgegenerationen immer älter werden. Zudem stehen wir vor großen Herausforderungen, da überall in Europa, den USA und eigentlich der ganzen Welt rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien immer stärker werden und ihre fremdenfeindlichen, rassistischen, völkischen und antisemitischen Positionen immer lauter vertreten und verbreiten. Gern will ich mich beteiligen, der Schlußstrich-Mentalität und „Vogelschiß“ Rhetorik entgegenzutreten, demokratische Traditionen unterstützen, Meinungsfreiheit und menschliche Würde gegen Angstmache und Hetze stellen.

Wenn ich gefragt werde, was ich von meinem Vater Erich gelernt und vielleicht übernommen habe, dann ist es vor allem das Interesse an Anderen. Seinen Mut und seinen Glauben an die Möglichkeit der Völkerfreundschaft bewundere ich. Zudem Hoffnung und Wunsch, dass man in seinem Leben auch im Scheitern seine Würde bewahren kann. Außerdem teile ich mit ihm die Freude an den Gedichten und Schriften des für meinen Vater berühmtesten und besten Sohn Düsseldorfs, Heinrich Heine.

Andrej Hermlin (*1965) – In Zeiten wie diesen

Ich gehöre an diesem grauen Herbstabend 1990 erst seit wenigen Monaten einer Partei an, die sich zu jener Zeit in einer permanenten Metamorphose zu befinden scheint. Innerhalb eines Jahres sind ihr das Programm, die Führung und Hunderttausende ihrer Mitglieder abhanden gekommen. Mehrfach hat sie ihren Namen geändert.

An diesem Abend nun stehe ich − nur wenige Meter vom Karl-Liebknecht-Haus entfernt − neben dem stellvertretenden Berliner Vorsitzenden meiner Partei. Wir diskutieren aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, die Lage im Nahen Osten.

Thomas F., ein ehemaliger Offizier der DDR-Bereitschaftspolizei, meint – fast beiläufig − das Schlimmste, was den Juden in ihrer zweitausendjährigen Geschichte widerfahren sei, wäre die Gründung des Staates Israel gewesen. Er sagt nicht „die Shoah“, er sagt „Israel“!

Ich erinnere mich sogleich an eine Ausgabe des „Schwarzen Kanals“ aus dem Frühjahr 1989, die ich damals zufällig gesehen hatte. Karl-Eduard von Schnitzler erklärte mit festem Blick in die Kamera, wir Deutschen seien auf Grund unserer Vergangenheit zu schärfster Kritik an Israel geradezu verpflichtet. Das Vorgehen der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten unterscheide sich vielleicht „quantitativ“ von den Handlungen der SS in Auschwitz, sei „qualitativ“ aber ein und dasselbe.

Im Sommer 2018 verabschiedete der Vorstand der inzwischen in „Die Linke“ umgetauften Partei einen Beschluss, der die Angriffe der Hamas auf die israelische Staatsgrenze zu „mehrheitlich friedlichen Massenprotesten“ umdeutete und Israel für eine Besatzung von Gaza zu verurteilen suchte, die es seit Jahren gar nicht mehr gibt.

Kein Wort von den wehenden Hakenkreuzfahnen in Gaza und den an Ballons aufgehängten Brandbomben. Der Parteivorstand verschwieg geflissentlich auch den Aufruf der Hamas, während des „Marsches der Rückkehr“ Juden zu entführen und zu verbrennen.

Die einseitige Parteinahme gegen Israel hat in der deutschen Linken eine unselige Tradition. Sie beruht – zumindest in Teilen − auf der abstrusen Annahme, die palästinensischen Araber seien gewissermaßen mit der Arbeiterklasse gleichzusetzen, während die Juden nichts anderes seien als deren kapitalistische Ausbeuter.

Man missverstehe mich nicht: Antisemitismus ist natürlich kein Privileg der deutschen Linken. Er ist dort nur besonders enttäuschend und er ist zugleich ein Widerspruch in sich, denn: Links ist niemals antisemitisch und Antisemiten sind niemals links!

Der „linke“ Antisemitismus, das Paradox also, ist dabei von einer ausgesuchten Niedertracht. Dieser Antisemitismus ist feige, er bestreitet gewissermaßen seine eigene Existenz, indem er sich hinter verharmlosenden Floskeln verbirgt und behauptet, sich „lediglich“ gegen den Zionismus zu wenden.

Kein anderer Konflikt auf unserem Globus beschäftigt die Deutschen − ob nun links oder nicht – stärker und ausdauernder als jener zwischen Arabern und Juden. Tausende Tote im Kongo, zehntausende in Syrien − das deutsche Herz bleibt kalt. Ein erschossener Palästinenser im Gazastreifen und die deutsche Seele kommt in Wallung, das Herz schlägt schneller.

Es lebte sich für manche leichter in Deutschland, wenn sich beweisen ließe, dass die Juden nicht besser sind als der eigene Vater oder Großvater. So werden die Opfer zu Tätern und die Täter von einst erscheinen in einem milderen Licht.

Inzwischen ist es hierzulande wieder modern, die Theorie von einer jüdischen Weltverschwörung zu bemühen. Da ist die Rede von „gewissen zionistischen Kreisen“ oder der „Ostküstenelite“. Selbst die längst vergessen geglaubten zaristischen „Protokolle der Weisen von Zion“ tauchen wieder auf und in Dresden wird der Kanzlerin von besorgten Bürgern „Judensau“ entgegen geschrieen.

Beobachter wiegeln ab, das alles solle man nicht überbewerten. Dabei ist es völlig unmöglich, eine korrekte Therapie auf Grundlage eines falschen Befundes anzuordnen. Ohne eine schonungslose Bestandsaufnahme kann man nicht auf Heilung hoffen.

Immer wieder ist zu lesen, nur ein gewisser, nicht allzu großer Prozentsatz der Deutschen neige zu einem latenten Antisemitismus. Wirklich? Kürzlich erst hörte ich, dass in einer repräsentativen Umfrage zu antisemitischen Stereotypen lediglich elf Prozent der Befragten keinem der aufgeführten Stereotype zugestimmt hätten. Was aber könnte bei einem Menschen dazu führen, einem antisemitischen Stereotyp beizupflichten, außer dass der Betreffende eben doch latent antisemitisch ist? Wenn allerdings eine Mehrheit der Deutschen eine gewisse Abneigung oder gar Feindschaft gegenüber den Juden empfindet − ganz unabhängig davon ob Frau oder Mann, ob gebildet oder weniger gebildet, ob politisch eher links oder eher rechts − wenn es also eine Mehrheit ist, was bedeutet dann diese Erkenntnis für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, wir machen uns etwas vor. Noch bewahrt uns der verbliebene Wohlstand vor einem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung. Was aber, wenn sich das änderte? Was, wenn wir in eine Krise der Wirtschaft gerieten? Was, wenn alle nötigen Zutaten im richtigen Verhältnis zueinander den Weg in das deutsche Reagenzglas fänden?

Habe ich noch eine Zukunft in Deutschland?

Andrej Hermlin ist der Sohn des Schriftstellers und kommunistischen Widerstandskämpfers Stephan Hermlin, der 1936 mit weiteren Familienangehörigen ins Exil nach Palästina ging. Von dort reiste er nach Frankreich und entkam der Deportation 1943 nur durch Flucht in die Schweiz. 1945 kehrte Stephan Hermlin nach Deutschland zurück. Andrejs Großvater, der jüdische Unternehmer und Kunstsammler David Leder, blieb in Berlin und wurde in der Pogromnacht von 1938 verhaftet. David Leder wurde in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung emigrierte er im Sommer 1939 mit seiner Frau Lola nach England.

Ellen Händler (*1948) – Antifaschismus liegt mir im Blut

Ist entstamme einer jüdischen Familie, die während der Nazizeit mehr als 80 Angehörige verloren hat. Meine Eltern überlebten, weil ihre Eltern sie als Kinder nach England zu völlig fremden Menschen schickten. Den Zurückbleibenden blieb nur die Hoffnung auf Menschlichkeit, dass wenigstens die Kinder überleben. Meine Eltern kehrten als Waisen nach Deutschland zurück, weil sie sich sagten: Die Nazis dürfen es nicht geschafft haben, dass Deutschland judenfrei ist. Sie wollten sich dafür engagieren, dass so ein Genozid nie wieder von deutschem Boden ausgeht.

Ich wuchs also ohne Familie in Deutschland auf. Ich hatte keine Oma und keinen Opa. Die Jugendfreunde meiner Eltern waren meine Tanten und Onkel. Deren Kinder meine Cousins und Cousinen – Freunde fürs Leben. Diese Fürsorge und uneingeschränkte Hilfsbereitschaft Bedürftigen gegenüber lebte meine Mutter und übertrug sie auch auf mich. Mein Vater engagierte sich frühzeitig politisch bei der Suche nach den schuldigen Nazis, beim Aufbau der DDR und deren Propagierung über den Rundfunk in die Welt. Gemeinsam mit meinen Eltern begab ich mich auf Spurensuche über das Schicksal meiner Angehörigen. Immer sprachen wir offen in der Familie, sowohl über die Vergangenheit als auch über die nicht wenigen aktuellen politischen Probleme. So war es auch selbstverständlich, dass ich mich für das Jugendaktiv des Komitees der Widerstandskämpfer interessierte. Natürlich bemerkte ich auch, dass wir in bestimmter Hinsicht privilegiert waren. Ich bekam Schulgeld und Stipendium als Kind von VdN-Kameraden. Meine Eltern kamen einfacher an ein Auto und fuhren öfter zur Kur.

Als Rentner arbeitete mein Vater in der Liga für Völkerfreundschaft, begleitete vor allem viele Amerikaner in der DDR. Nach der Wende wurde mein Vater Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees. Ich habe ihn oft unterstützt. Gemeinsam sind wir nach Israel gefahren und haben in Yad Vashem die israelische Sektion der ehemaligen Sachsenhausen-Häftlinge gegründet. Der Kalte Krieg hatte auch auf dieser Seite Folgen. Die Israelis durften keine Kontakte in die DDR haben.

Meine Mutter war Fürsorgerin für die VdN-Kameraden und das mit ganzer Seele. Sie kannte das Schicksal aller, half bei großen und kleinen Sorgen. Gemeinsam mit dem Altbürgermeister Walter Sack, dem Vorsitzenden des Kreiskomitees der Widerstandskämpfer organisierte sie ein vielseitiges politisches und Freizeitleben für die Kameraden und ihre Angehörigen.

Antisemitismus habe ich persönlich in der DDR nie erlebt. Ich spürte allerdings die Unsicherheit vieler im Umgang mit Juden. Ich kannte das Schicksal verfolgter Juden in der DDR. Das war bei uns kein Tabu. Nie versteckte ich mich. Ganz im Gegenteil: Ich machte einige auf Nazibegriffe aufmerksam, die ohne nachzudenken noch Allgemeingut meiner Kindheit und Jugend waren. Da denke ich oft noch daran, dass Schüler, Studenten auch Lehrer solche Begriffe aus der „Sprache des 3. Reiches“ verwandten, wenn sie sagten: „Ich kann das bis zur Vergasung nicht mehr hören“. Immer waren sie völlig erstaunt oder entsetzt, als ich sie auf das Gesprochene aufmerksam machte.

Als dann die Wende kam und die ersten Nazischmierereien am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow entdeckt wurden, gehörten wir zu den Mitorganisatoren der großen Demo dagegen. Da entstand aus Sorge vor dem Wiederaufflammen der Naziideologie und der Angst vor dem Vergessen, die Idee, in Treptow „antifa-Treptow“ zu gründen. Hier sollte erinnert, bewahrt und geforscht werden, sollten weiße Flecken des Antifaschismus aufgedeckt und bearbeitet werden. Wir wollten mit Lehrern und Schülern gemeinsam an dem antifaschistischen Erbe arbeiten. Ich wurde mit meinem Vater 1990 in den ersten Vorstand gewählt. In den ersten Jahren fanden wöchentlich politische Veranstaltungen statt, konnten wir viele Ausstellungen durchführen. Bis 2005 hatten wir insgesamt 49 Mitarbeiter als ABM in unterschiedlichsten Projekten beschäftigt. Wir haben die Zwangsarbeiterlager Treptows erforscht, haben das Leben der Juden in unserem Bezirk untersucht, haben gemeinsam mit Schülern und Lehrern viele Projekte durchgeführt und über 70 Stolpersteine verlegt.

Nun sind wir auch in die Jahre gekommen. Leider finden wir nicht genügend jüngere Mitstreiter. Aber monatlich sind unsere Veranstaltungen nach wie vor sehr interessant. Besonders stolz sind wir, dass wir für die ganze Stadt jährlich zwei Veranstaltungen mit Unterstützung des Bezirksamtes organisieren: Das ist anlässlich des 8. Mai die Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung an der Mutter Heimat im Sowjetischen Ehrenmal und zum 9. November, dem Tag, an dem die Pogrome in Deutschland begannen, die Matinee im Rathaus Treptow.

Wir haben es geschafft, was keiner zur Gründung des Vereins 1990 dachte: Der Bund der Antifaschisten Treptow e.V. lebt nach 28 Jahren noch, ist aktiv und engagiert sich für Antifaschismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, und das im Bündnis mit vielen Gleichgesinnten.

Johnny Granzow (*1932) – Emigration und Antifaschismus

Mein Leben begann ich als Emigrant der ersten Stunde: Noch im Berlin der Weimarer Republik 1932 geboren, fand ich mich sechs Monate später in Prag wieder. Meine Mutter war, mit mir im Kinderwagen, meinem Vater dorthin gefolgt, wo er seit seiner Flucht aus Deutschland im März 1933 seine Verlagsarbeit für die exilierte Arbeiter-Illustrierte-Zeitung fortsetzte. So verbrachte ich meine Kindheit als Asylant − erst drei Jahre in Prag, danach fast acht Jahre in Frankreich.

Ich erlebte diese Zeit ganz ursprünglich, ohne Vorbehalt. Ich kannte nur dieses selbsterlebte Leben − Vergleiche mit anderem Leben in einem anderen Land kannte ich nur aus Erzählungen meiner Eltern und ihrer Freunde. Zuhause war es eine Selbstverständlichkeit, gegen Hitler zu sein und ich bewunderte meinen Onkel Kurt, von dem ich im Alter von fünf Jahren erfuhr, dass er in Spanien mit der Waffe in der Hand gegen die Faschisten kämpfte.

In der Nacht vom 1. auf den 2. September 1939 erlebte ich in Paris die Verhaftung meines Vaters. Ich sah ihn erst im Mai 1945 in Berlin wieder, nachdem er von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden war. Da hatte er das Schlimmste hinter sich, und ich auch: 1944 war ich mit meiner Mutter unter Gestapodruck nach Berlin gekommen. Sie kehrte zurück, als Deutsche. Ich aber war in Frankreich aufgewachsen und eingeschult worden und kannte Deutschland nicht. Ich empfand Frankreich als Heimat und hatte diese nun verloren.

In Deutschland erlebte ich von Januar 1944 bis April 1945 in Berlin den fürchterlichen Bombenkrieg. In dieser Zeit erfuhr ich von der Hinrichtung meines Onkels Kurt in Plötzensee am 10.9.1943, von der Verhaftung meines Onkels Walter, der dann im Frühjahr 1945 auf einem Gefangenentransport nach Bayern erschlagen wurde und von der Inhaftierung meines Onkels Hans in Sachsenhausen, der später Dank des Schwedischen Roten Kreuzes dem Todesmarsch entkam. Mit diesem Gepäck trat ich nach der Befreiung ins weitere Leben und wusste, wohin ich gehöre und auch, was ich tun musste.

Ich habe mich lange geschämt, auch Deutscher zu sein. Angehörigen von ermordeten französischen Widerstandskämpfern, die die DDR besuchten, traute ich mich nur in die Augen zu sehen, weil immerhin in meiner Familie auch Widerstand geleistet worden war.

In den fünfziger Jahren war ich als Westberliner FDJler aus Reinickendorf an den Protesten gegen die neonazistische Deutsche Partei beteiligt, die von schlagkräftigen Polizisten unterstützt wurde. Ich hätte nie geglaubt, in den neunziger Jahren in Lichtenberg mit Neonazis konfrontiert zu sein. Und doch passierte es, so dass wir uns in einer Initiative gegen Rechts zusammenschließen mussten, um ihnen entgegen zu treten.

Als französischsprachiger Redakteur bei Radio Berlin International konnte ich zu DDR-Zeiten viele Sendungen mit französischen und mit deutschen Résistance-Kämpfern gestalten. Ich bin auch vor Schulklassen zu diesem Thema und der Geschichte meiner Familie aufgetreten − in Deutsch und Französisch, vor allem nach 1990. In diesem Jahr hat eine französische Zeitschrift meinen Beitrag über Carl Matiszik, deutscher Kommandeur einer französischen Résistance-Einheit, veröffentlicht. Das lag mir sehr am Herzen.

Mein Buch über den Ausbruch aus dem französischen Geheimgefängnis in Castres am 16. September 1943 wurde 2009 in Frankreich und 2012 in Deutschland veröffentlicht. Es war das Ergebnis zehnjähriger Recherchen über das Gefängnis, aus dem die französische Kollaborationsregierung deutsche Antifaschisten an die Gestapo auslieferte − dabei mein Onkel Kurt. Aber in dem Gefängnis waren Hitlergegner aus 18 verschiedenen Ländern eingesperrt, unter ihnen Interbrigadisten, die die ersten dort waren, dann alliierte Geheimdienstoffiziere, abgeschossene amerikanische Piloten, französische Funker und ihre Helfer aus dem Widerstand … So erklärt sich, dass die 35 gemeinsam ausgebrochenen Häftlinge aus elf verschiedenen Ländern stammten. Ihnen war eine sensationelle Flucht aus eigener Kraft, von innen heraus, gelungen. Und sie kehrten in den Widerstand zurück.

Ich bin jetzt 85 Jahre alt, das setzt meinen Aktivitäten Grenzen. Aber gerade erreichte mich eine Nachricht, die mich sehr froh gestimmt hat: Eine französische Geschichtslehrerin aus der Stadt Castres bewirbt sich mit ihrer Klasse um die Teilnahme an dem in Frankreich jährlich stattfindenden Schulwettbewerb mit Projekten über die Résistance. 2019 steht dieser Wettbewerb unter den Stichworten: „Unterdrückungen und Deportationen“. Die Lehrerin hat als Studienobjekt gewählt: Das Gefängnis in Castres im Zweiten Weltkrieg. „Dessen Geschichte“, so schrieb sie mir im September 2018, “dank Ihnen der Vergessenheit entrissen worden ist“. Sie erklärte dann, sie sei entschlossen, meine Nachfolge für weitere Forschungen anzutreten.

Ich werde ihrer Bitte folgen, Fragen ihrer Schüler zu beantworten und sie zu beraten.

Andrée Fischer-Marum (*1941) – Nachkommen vor neuen Herausforderungen

Seit 1988 vergibt die SPD in Karlsruhe den Ludwig-Marum-Preis zum Gedenken an den badischen jüdischen Politiker, den badischen Justizminister und Karlsruher SPD-Reichstagsabgeordneten. Er wurde 1934 im KZ Kislau von den Nazis ermordet. Geboren wurde er 1882 in Frankenthal in der Pfalz in einem jüdischen Elternhaus, trat nach einem Jurastudium bereits 1904 der SPD bei. In Karlsruhe, wo er seit 1909 lebte, gründete eine Anwaltspraxis und begann gleichzeitig sein politisches Wirken. 1914 wurde er als Abgeordneter seiner Partei in den badischen Landtag gewählt. Während der Novemberrevolution gehörte er zu den Begründern der badischen Verfassung, er wurde dort Justizminister, war über viele Jahre Fraktionsführer seiner Partei im Landtag und wurde von 1928 an bis 1933 in den Reichstag gewählt. Sofort nach der Machtübertragung an die Nazis wurde er verhaftet und 1934 im KZ Kislau ermordet. Er war den badischen Nazis ein besonders verhasster Gegner, hatte er, „der Jude“, sie doch sowohl juristisch vor Gericht als auch politisch bloßgestellt.

Ludwig Marum war mein Großvater. Ich fahre seit 1990 beinahe jedes Jahr nach Karlsruhe, um bei der Preisverleihung den Preisträgerinnen und Preisträgern im Namen der Nachkommen den Dank für ihr Wirken im Sinne Ludwig Marums auszusprechen. Selbstverständlich gehe ich aus gegebenem Anlass auf aktuelles politisches Geschehen ein und stelle den Bezug zur Familienbiografie her. Neben meiner Beteiligung an diesen Auszeichnungen bin ich ebenso regelmäßig im Ludwig-Marum-Gymnasium in Berghausen (Pfinztal) in der Nähe von Karlsruhe, wo die Schule gemeinsam mit der Gemeinde 2000 eine Stiftung gegründet hat, um dort an Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Bewohnerinnen und Bewohnern des Ortes einen Preis verleihen zu können.

Ich setze damit eine Tradition fort, die Elisabeth Marum-Lunau, die älteste Tochter von Ludwig und Johanna Marum, 1988 begründete, als in ihrer Anwesenheit dem Gymnasium in Pfinztal/Bergfelde der Name Ludwig Marum verliehen wurde – übrigens auf Antrag von Schülerinnen und Schülern und gegen starken Widerstand der Schulbehörde und -leitung.

Seit 1995 hat es sich eingebürgert, dass ich in der Zeit, wo ich aus Anlass der beiden Preisverleihungen in Karlsruhe bin, von Lehrerinnen und Lehrern des Gymnasiums eingeladen werde, zu Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern ihre Klassen zu besuchen – gleich, ob es die 5. oder 7. Klassen oder Kurse der Oberstufe sind. Wenn ich auf all diese Jahre zurückblicke, wird mir deutlich, wie sehr sich der Inhalt dieser Gespräche verändert hat.

In den 1990er Jahren spielte in den Gesprächen die „Exotik“ einer Enkelin des Namensgebers eine Rolle: Ob ich meinen Großvater gekannt habe, wie er gewesen sei, wie es in Mexiko war, wo meine Eltern mit ihren beiden Kindern im Exil waren, ob ich den Krieg erlebt habe, wie ich gelebt habe, was meine Kinder machen. In den höheren Klassen gab es Gespräche über die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten und mein Leben in der DDR. In den letzten Jahren bemerke ich, dass sich die Gespräche immer mehr um die Probleme der Gegenwart bewegen, um die Flüchtlingspolitik, um den anschwellenden Rassismus und Rechtspopulismus, auch über den Einfluss der verschiedenen Religionen. Ich bemühe mich, mit dem Erzählen über meine Familiengeschichte den Bezug zum heute herzustellen, indem ich mich mit den Schülerinnen und Schülern über ihr Leben, ihre Familien unterhalte, woher sie, ihre Eltern, ihre Großeltern kommen, welche Familientraditionen es bei ihnen gibt. Und es wird deutlich: Ob man vor deutschem Faschismus, einem Krieg im Kosovo oder Syrien flieht, es ist immer ein Unheil, das jeden in diesem Gebiet betrifft. Hilfe, Solidarität sind in dieser Situation die größte Unterstützung. Wir sprechen auch darüber, wie Kriege entstehen, dass sie Menschenwerk sind, dass es um Rohstoffe, um Macht, um Beherrschung dieser Welt geht. Ich hoffe dazu beizutragen, dass die Schüler einen eigenen politischen Standpunkt, ein kritisches Bewusstsein entwickeln.

Stehe ich vor neuen Herausforderungen? Vor neuen Herausforderungen stand ich 1989/1990. Bei den damaligen gesellschaftlichen Veränderungen musste ich meinen Platz in einer Gesellschaft suchen, der ich sehr kritisch gegenüber stand und immer noch stehe. Inzwischen habe ich meinen Platz gefunden und eingenommen. Dass die Schüler sich für meine Familiengeschichte interessierten, war für mich Anlass, die Geschichte meiner Familien gründlich zu erkunden und nachzudenken, was ich im Ludwig-Marum-Gymnasium davon vermitteln kann. Die gesellschaftliche Situation rückt nach Rechts. Das empfinde ich als eine Verpflichtung, mit meiner Familiengeschichte und den daraus gewonnenen Erkenntnissen beizutragen, dass junge Menschen in die Lage sind zu wissen, dass eine demokratische Gesellschaft heute nicht ohne die Erfahrungen der Flucht vor den Nazis auskommt. Insofern sehe ich mich als Zeitzeugin von Zeitzeugen.

Amélie zu Eulenburg (*1984) – Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat auch keine Zukunft

Am 13. Januar 1945 erhielt meine Großmutter durch ihren Rechtsanwalt Joachim Grabow Nachricht von der Verhaftung meines Großvaters: »Auf Wunsch Ihres Mannes teile ich Ihnen mit, dass dieser sich zur Zeit in Plötzensee befindet.« Sie selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf.

Meine Großeltern Kurt Walter, *1893, und Emmi Kabisch, geb. von Pustau *1895, waren seit 1921 verheiratet. Seit Ende der 1930er Jahre lebten sie im »Französischen Hof« in der Friedrichsgracht 61, am Spreeufer. Mein Großvater war Kunstmaler und Grafiker. Er hatte von 1916−1921 an der Unterrichtsanstalt der Königlichen Kunstgewerbeschule Malerei und Grafik bei Emil Orlik studiert. Dort besuchte er dieselbe Klasse wie Hannah Höch und George Grosz. In den 1920er und 1930er Jahren zeichnete er politische Karikaturen für satirische Zeitschriften wie den »Ulk«, die Beilage des Berliner Tageblatts. Meine Großmutter war Hausfrau, beschäftigte sich jedoch leidenschaftlich mit Mathematik. Im Jahr 1940 kam meine Mutter Gita zur Welt. Meine Großeltern brachten sie Weihnachten 1943 zu Bekannten nach Sachsen, wo sie den Krieg überlebte. 1946 wurde sie von Verwandten nach Hamburg geholt.

Am 3. August 1944 wurde meine Großmutter wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt. Eine Frau, Gertrud Daude aus Götz/Groß Kreutz bei Werder Havel, hatte sie denunziert, weil sie sich im Sommer 1943 über das baldige Kriegsende geäußert hatte. Am 18. August 1944 festgenommen, erhielt sie in der Untersuchungshaft in Moabit ihre Anklageschrift. Am 21. September 1944 wurde sie ins Frauengefängnis Barnimstraße überstellt. Bei der Gerichtsverhandlung am 10. November wurde ihr schlechter gesundheitlicher Zustand angesprochen, sie wog nur noch 82 Pfund. Am 22. November 1944 erfolgte die Überführung ins Haftkrankenhaus Meusdorf und am 12. März 1945 in die Justizvollzugsanstalt Nordhausen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist sie verschollen.

Ende November 1944 wurde auch mein Großvater verhaftet, laut Akte wegen »Diebstahl und Kriegswirtschaftsvergehen«. Am 29. November 1944 erfolgte die Verlegung von der Untersuchungshaftanstalt Moabit ins Gefängnis Plötzensee. Von dort wurde er am 29.3.1945 nach Hause entlassen. Seine Wohnung war jedoch bei Bombenangriffen stark zerstört worden und er lebte in den nächsten Wochen vermutlich im Bunker der Reichsbank. Dort soll er mehrfach durch kritische Äußerungen aufgefallen sein. Ende April 1945 wurde er in der Sperlingsgasse erschossen aufgefunden. Laut eines Artikels in der Berliner Zeitung vom 1. Mai 1947 soll ihn ein SS-Mann von hinten erschossen haben.

Wir hatten als Kinder nur eine vage Ahnung davon, dass unseren Großeltern im Zweiten Weltkrieg etwas zugestoßen war, ohne jedoch genauere Einzelheiten zu kennen. Es wurde auch nicht darüber gesprochen. Während meines Geschichtsstudiums recherchierte ich in verschiedenen Archiven zu unterschiedlichen Themen und stieß dabei zufällig auf das Gerichtsurteil meiner Großmutter im Bestand des Bundesarchivs Berlin. Meine Neugierde war geweckt und es gelang mir immer mehr Informationen zusammenzutragen, so dass die Biografien meiner Großeltern an Vollständigkeit gewannen.

Ich arbeite inzwischen selbst als Historikerin und Kuratorin in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Nach dem Geschichtsstudium, einigen Stationen und Ausstellungsprojekten, wie einem wissenschaftlichen Volontariat in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Mitarbeit beim Deutsch-Russischen Museum Karlshorst oder bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, bin ich zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. Die Gedenkstätte Lindenstraße ist ein Ort mit mehrfacher Diktaturvergangenheit, das Gefängnis diente nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch in der sowjetischen Besatzungszeit und der DDR als Haftort.

Für meine Arbeit ist mir wichtig, dass Opfer von staatlichem Terror, unabhängig von welchem politischen System sie verfolgt wurden, nicht gegeneinander ausgespielt werden. Stattdessen sollte jede einzelne Biografie mit Einfühlungsvermögen betrachtet und in ihren jeweiligen Kontext und ins Verhältnis gesetzt werden, nicht aber in Konkurrenz zu anderen Biografien. Erste Versuche dazu begannen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sie dauern bis heute fort.

Hans Coppi lud mich im September 2018 zum Workshop und dem Vernetzungstreffen mit Nachkommen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ein. Es gab viele anregende Gespräche und Diskussionen, über die Vergangenheit und die Gegenwart, und es herrschte Einvernehmen darüber, wie wichtig und unverzichtbar demokratische Werte heute sind. Zur Demokratie gehört die gerechte und soziale Gestaltung der Gegenwart und Zukunft ebenso wie Gedenken und Erinnerung an vergangene Verbrechen, staatlichen Terror und Gewalt sowie deren Aufarbeitung. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat auch keine Zukunft.

Hans Coppi (*1942) – Die „Rote Kapelle“ auf neue Weise erzählen

Meinen Eltern verdanke ich mein Dasein, das Ende November 1942 in der Entbindungsstation im Berliner Frauengefängnis an der Barnimstraße begann. Zwei Tage vor dem Hinrichtungstermin wurde ich am Eingang des Gefängnisses in einem Kissen meiner Großmutter mütterlicherseits übergeben. Nach dem Krieg bin ich bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen. Wir wohnten in einer noch im Krieg zerstörten und danach wieder aufgebauten Laube in der Kleingartenkolonie „Am Waldessaum“ in Borsigwalde. Dort hatten meine Eltern vom Mai 1941 bis zu ihrer Festnahme im September 1942 die wohl glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht. Seit 1947 erinnerte ein kleines Schild an der Laube an die früheren Bewohner. Zum Gedenktag an die Opfer des Faschismus versammelten sich mir unbekannte Besucher auf unserem Grundstück und legten Blumen nieder.

Meine Großeltern entschlossen sich, im August 1950 in den „demokratischen Sektor“ Berlins nach Karlshorst zu ziehen. In den folgenden Jahren erhielten – häufig nach Zustimmung meiner Großeltern – Pionier- und FDJ-Organisationen, Kinderheime, Kindergärten, Brigaden in Betrieben, Straßen und Schulen den Namen von Hilde und/oder von Hans Coppi. Es war für mich nicht einfach mit (toten und mich verpflichtenden) Helden aufzuwachsen. Für mich blieben sie meine Eltern, die mir fehlten und die ich sehr vermisste. Mich störte, wenn bei Namensgebungen der letzte Brief meiner Mutter verlesen wurde. Wenn ich nach dem Tod meiner Großeltern von Schulen eingeladen wurde, bat ich Freunde meiner Eltern mich zu begleiten. Sie erzählten, wie sie sich auf der Schulfarm Scharfenberg kennengelernt und nach 1933 an zahlreichen Widerstandsaktivitäten beteiligt hatten. Später hatte ich Kontakt zu den Namensträgern und war Gesprächspartner an Schulen. 1973 begegnete ich meinen Eltern in dem DEFA-Film „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ auf einer großen Kinoleinwand.

Immer mehr interessierte mich, was sich hinter der „Roten Kapelle“ verbarg. In den mir zugänglichen Veröffentlichungen fand ich kaum Antworten auf meine Fragen. 1988 lud mich der Historiker Heinrich Scheel ein, in der Arbeitsgruppe „Schulze-Boysen-Harnack-Widerstandsorganisation“ an der Akademie der Wissenschaften mitzuarbeiten.

Zunächst interessierte mich der Hitlergegner und Bürgersohn Harro Schulze-Boysen. 1992 wurde ich mit einer biografischen Studie zu Harro Schulze-Boysens promoviert. In dieser Zeit war ich in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand an der Vorbereitung einer ersten Konferenz zu den Berliner Freundes- und Widerstandskreisen und einer ersten Wanderausstellung beteiligt.

Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, und Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Generalstab der Luftwaffe, informierten einen Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft seit Ende 1940 über die beginnenden Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion. Stalin bezeichnete die Warner aus Berlin noch vier Tage vor dem 22. Juni 1941 als Desinformanten. Der vereinbarte Funkverkehr nach Moskau kam nicht zustande, da die meinem Vater übergebenen Funkgeräte über eine zu geringe Reichweite verfügten.

Mein Einblick in Widersprüche, Zusammenhänge und Zusammenhalt der illegalen Arbeit war zugleich mit einer Annäherung an das Leben meiner Eltern verbunden, Ihre Motive, ihren selbstlosen Einsatz, ihren Mut, ihre Liebe und ihre Entschlossenheit trotz aller Gefahren konnte ich besser verstehen. In ihrem Leben und Handeln berührten sich Politisches und Privates, Alltag und Widerstand.

Sie beteiligten sich an vielfältigen Aktivitäten, so an der Zettelklebeaktion gegen die im Lustgarten aufgebaute antisowjetische Propagandaschau „Das Sowjetparadies“. Meine Mutter und ihre Freundin Grete Jaeger hörten Ende 1941 den Moskauer Rundfunk. Sie notierten sich die von deutschen Kriegsgefangenen genannten Adressen und gaben ein Lebenszeichen an ihre Verwandten weiter.

Der im Kalten Krieg wiederbelebte Gestapo-Mythos „Rote Kapelle“ diente in der Bundesrepublik dazu, die überlebenden Gegner des Naziregimes zu denunzieren und die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung zu schüren. Der Makel des Landesverrates lag weiterhin auf den Frauen und Männern der „Roten Kapelle“ und beeinflusste die historische Wertung, verbunden mit einer nochmaligen, nicht nur moralischen Diffamierung der Toten und Überlebenden. Frühere Gestapobeamte wirkten im BND und im Verfassungsschutz. Gemeinsam mit dem Staatsanwalt Roeder und den Richtern des Reichskriegsgerichtes waren sie Stichwortgeber und gefragte „Experten“ für zahlreiche Veröffentlichungen.

Meine Recherchen in Moskauer Archiven verdeutlichten, dass die Berliner Widerstandskreise weder von der Auslandsleitung der KPD in Moskau angeleitet wurden noch dem sowjetischen Auslandsnachrichtendienst angehörten. Die „Rote Kapelle“ – ursprünglich ein Fahndungsbegriff zunächst der Funkabwehr und dann der Gestapo – war ein heterogenes Netzwerk weltanschaulich und politisch unterschiedlicher und 1941/42 lose miteinander verbundener Widerstandskreise. Sie sind integraler Bestandteil des deutschen Widerstands gegen das Nazi-Regime.

Seit Anfang der 1990er Jahre konnte ich in Publikationen, Dokumentarfilmen, Features und auf Tagungen in Deutschland, Israel, Belgien und Italien dazu beitragen, die „Rote Kapelle“ auf neue Weise zu erzählen. Als Metapher hat die „Rote Kapelle“ eher einen Bezug zu einem vielstimmigen Orchester.

Hans Coppi: Weitere Veröffentlichungen zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung, zum Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, zu Ilse Stöbe, zum Antifaschismus und zur Erinnerungs- und Gedenkpolitik.